Ein Pilger der sein Ziel nicht kennt

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Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt;
Der Feuer sieht und weiß nicht, wo es brennt;
Vor dem die Welt in fremde Sonnen rennt.

Ich bin ein Träumer, den ein Lichtschein narrt;
Der in dem Sonnenstrahl nach Golde scharrt;
Der das Erwachen flieht, auf das er harrt.

Ich bin ein Stern, der seinen Gott erhellt;
Der seinen Glanz in dunkle Seelen stellt;
Der einst in fahle Ewigkeiten fällt.

Ich bin ein Wasser, das nie mündend fließt;
Das tauentströmt in Wolken sich ergießt;
Das küßt und fortschwemmt, – weint und froh genießt.

Wo ist, der meines Wesens Namen nennt?
Der meine Welt von meiner Sehnsucht trennt?
Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt.

Erich Mühsam (1878 – 1934)

Johannes vom Kreuz: Der Urquell

Skizze: Johannes vom Kreuz / Archiv

Wohl kenne ich den Quell,
der rinnt und fließet,
obgleich’s bei Nacht ist.

Verborgen ist dem Blick die ewge Quelle,
doch weiß ich wohl zu finden ihre Stelle,
obgleich’s bei Nacht ist.

Ich weiß, nicht Ursprung hat sie je genommen,
doch aller Ursprung ist aus ihr gekommen,
obgleich’s bei Nacht ist.

Ich weiß, dass keine Schönheit ihrer gleiche,
sie tränkt die Erde und die Himmelreiche,
obgleich’s bei Nacht ist.

Ins Bodenlose, weiß ich, würde gleiten,
wer sie beträte, um sie zu durchschreiten,
obgleich’s bei Nacht ist.

Niemals hat ihre Klarheit sich verdunkelt,
und alles Licht weiß ich aus ihr entfunkelt,
obgleich’s bei Nacht ist.

Gewaltig weiß ich ihre Ströme eilen
durch Höllen, Himmel und wo Menschen weilen,
obgleich’s bei Nacht ist.

Den Wassern, die aus dieser Quelle steigen,
wohl weiß ich ihnen alle Macht zu eigen,
obgleich’s bei Nacht ist.

Den Strom, zu dem zwei Ströme sich verbinden,
weiß ich mit beiden nur zugleich zu finden,
obgleich’s bei Nacht ist.

Verborgen rinnt der Quell, auf dass wir leben,
in dem lebend’gen Brot, das uns gegeben,
obgleich’s bei Nacht ist.

Hier ruft er die Geschöpfe, dass sie kommen,
zu stillen sich, von Dunkelheit umschwommen,
obgleich’s bei Nacht ist.

Ersehnter Quell, dich such‘ ich nicht vergebens,
ich schaue dich in diesem Brot des Lebens,
Weil es bei Nacht ist.

Johannes vom Kreuz (1542 – 1591)

Am Rade des Daseins…

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Am Rade des Daseins,
das ewig sich dreht,
sind zweierlei Menschen
ohne Sorgen.

Jene, die alle Geheimnisse
der Welt kennen
und jene, die keinerlei Ahnung
von ihnen haben.

Leider müssen wir erkennen,
dass wir weder der einen
noch der anderen
Kategorie angehören.

Omar Khayyam (1048 – 1131)

Ralph Waldo Emerson: Brahma

OM / Archiv

Der rote Schläger denkt, daß er schlüge,
und der Erschlagene denkt, er sei erschlagen:
Sie wissen nicht, wie heimlich ich es füge,
daß alle Dinge mich im Innern tragen.

Für mich ist nah, was ferne und versunken;
Sonne und Schatten geben sich nichts nach;
Götter erscheinen mir, die längst entschwunden;
ein und dasselbe sind mir Ruhm und Schmach.

Wer mich verleugnet, kennt nicht seine Lage:
Wenn er mich flieht, bin ich, was ihn beschwingt;
ich bin der Fragesteller und die Frage;
ich bin das Lied, das der Brahmane singt.

Die Götter sehnen sich nach meinen Gründen,
den Heiligen Sieben laß‘ ich keine Ruh;
du, Liebender des Guten, wirst mich finden
und kehrst dem Himmel deinen Rücken zu.

Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882)

Herz im Himmel – Himmel im Herzen

Meditationsbild des Nikolaus von Flüe / Archiv

Die seit der Aufklärung verbreitete Meinung, Mystiker seien weltfremd-unpraktische, phantastisch-verzückte, grotesk-abstruse Sonderlinge ohne Sinn für die konkrete Wirklichkeit, ist durchaus unzutreffend, wenigstens für die katholische Mystik, deren berufene Lehrer stets grundsätzlich vor solchen Einseitigkeiten warnten und zu klugem Maßhalten rieten. Wohl aber finden wir unter den Mystikern und Heiligen zwei einander gegenüberstehende Typen, zwei Hauptgattungen, die je nach ihrer persönlichen Anlage eine verschiedenartige Wirksamkeit entfalten. Die Einen ziehen sich so völlig als nur möglich von allen weltlichen Dingen für immer zurück und vertiefen sich ausschließlich in Gott und in die eigene Seele, in der sie ja Gott finden. Die Welt ist für sie versunken. Sie leben nach dem Augustinusworte „ Deum et animam scire cupio. — Nihilne plus — Nihil omnino“ / „Gott und die Seele möchte ich kennen lernen, nichts mehr, überhaupt nichts mehr“. So lebten die Asketen der thebäischen Wüste, so die irischen Mönche auf Island, so manche europäische Reklusen. — Die Andern halten wohl auch Gott in ihrer Seele fest und suchen „ Vergottung“, aber sie suchen zugleich auch ihre Umwelt zu „vergotten“. Während jene ihr Herz im Himmel haben und nur von ferne für die Welt beten, haben diese den Himmel in ihrem Herzen und lassen sein Licht in die Welt hinausstrahlen, indem sie Beispiel geben, lehren, raten, mahnen, tadeln und Frieden stiften. Diese beiden extremen Typen stehen sich aber nicht etwa als feindliche, unvereinbare Gegensätze gegenüber. Sie sind durch mannigfache Übergänge mit einander verbunden, und unzählige Fromme, Selige und Heilige der Kirche haben in glücklichster Harmonie persönliches Innenleben und soziales Gemeinwirken zu vereinigen gewußt, ja diese Verbindung erscheint schon in früher Zeit als das ausgesprochene Ideal des religiösen Lebens.

Wilhelm Oehl (1881 -1950) in „Bruder Klaus und die deutsche Mystik“ in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 11 (1917)

Mystiker kennen eine andere Wahrheit

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Wissenschaftler mögen uns erzählen, dass unser Universum vor dreizehn Milliarden Jahren mit dem Urknall begann, als von einem unendlich heißen und dichten singulären Punkt aus Materie in die Existenz kam. Aber die Mystiker kennen eine andere Wahrheit: wie aus einer ungeborenen und unsterblichen Leere die Existenz unaufhörlich als Fluss von Licht und Liebe in die Schöpfung kommt und dann die physische Form erhält. Und die Liebe bleibt, die Grundlage, die Essenz von allem – von jedem Teilchen und jedem Stern. Sie ist die Urenergie, die Kraft und Präsenz in der erschaffenen Welt. Und sie ist unsere göttliche Natur, die sich in unserem Körper und in unserer Seele immer entwickelt und verändert, auch wenn sie beständig ist.

Llewellyn Vaughan-Lee (* 1953) in: Liebender und Geliebter: Die mystische Liebe im Sufismus

Liebender und Geliebter: Die mystische Liebe im Sufismus

Gottes Entdeckung von uns

Detail Bernwardtür Hildesheim/ Foto: (c) wak

Unsere Entdeckung Gottes ist in gewisser Weise Gottes Entdeckung von uns. Wir können nicht in den Himmel gehen, um ihn zu finden, weil wir nicht wissen können, wo der Himmel ist oder was er ist. Er kommt vom Himmel herab und findet uns. Er schaut uns aus den Tiefen seiner eigenen unendlichen Wirklichkeit an, die überall ist, und indem er uns sieht, gibt er uns ein neues Wesen und einen neuen Geist, in dem auch wir ihn entdecken. Wir kennen Ihn nur insofern, als wir von Ihm erkannt werden, und unsere Anschauung von Ihm ist eine Teilhabe an Seiner Anschauung von sich selbst.

Thomas Merton (1915-1968)

Ein Gespräch zweier Männer über den verborgenen Gott

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Heide: Ich sehe, wie du voll Ehrfurcht niedergebeugt, aus

tiefstem Herzen Tränen der Liebe vergießt, ohne zu heucheln.

Bitte, sage mir, wer du bist!

Christ: Ich bin ein Christ.

Heide: Wen betest du an?

Christ: Gott.

Heide: Wer ist der Gott, den du anbetest?

Christ: Das weiß ich nicht.

Heide: Wie kannst du mit solchem Ernst etwas anbeten, das du

nicht kennst?

Christ: Eben weil ich ihn nicht kenne, bete ich ihn an.

Nikolaus von Kues (1401 – 1464)

Vollkommenheit aktiven Mitleids

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Das Mantra Om mani padme hum wird auf das Herz-Zentrum bezogen. Aber wichtiger als die Lokalisation ist, dass wir uns bei der Rezitation – sei sie nun laut oder als innere Schwingung – die Gestalt des Avalokitesvara vergegenwärtigen, dem dieses Mantra zugeordnet ist. Avalokitesvara aber ist jener Aspekt des Erleuchteten – des Buddha -, der die Vollkommenheit aktiven Mitleids verkörpert. Wenn wir die Gegenwart Avalokitesvaras in uns fühlen, kann das Mantra seine Wirkung in uns ausüben. Wenn wir aber noch nie etwas von Avalokitesvara gehört haben und keine Vorstellung von ihm haben, werden wir ins Leere zielen, weil wir die Richtung des Mantras nicht kennen.

Ausschnitt aus: Weit über mich hinaus, Gespräche über Tantra und Meditation, herausgegeben von Birgit Zotz, Aquamarin Verlag, 2017

Der ganze Beitrag mit dem Gespräch Anagarika Govindas zur Mantra-Meditation kann hier gelesen werden:

XII. MAGISCHE BLÄTTER BUCH | WINTER

CIII. Jahrgang Winter 2022 / 2023 | ORNAMENTE & MANTRA (Dezember | Heft 35)

EINZELBUCH, 364 Seiten, 20,00 € (zuzüglich Versandkosten)ISBN-Nr. 978-3-948-5941-5 2

Herausgeber: Verlag Magische Blätter – Ronnenberg | Schriftleitung: Organisation zur Umwandlung des Kinos

Bestellungen hier: kontakt@verlagmagischeblaetter.eu subject: BESTELLEN MAGISCHE BLÄTTER BUCH XII