Eins-Werden mit dem unendlichen Sein

Albert Schweitzer-Denkmal in Straßburg / Foto: (c) wak

Mystik ist die vollendete Art von Weltanschauung. In der Weltanschauung sucht der Mensch zu dem unendlichen Sein, dem er in natürlicher Weise angehört, auch in ein geistiges Verhätnis zu gelangen. Er setzt sich mit der Welt auseinander, ob er den geheimnisvollen Willen, der in ihr waltet, erfassen und mit ihr eins werden könne. Nur im geistigen Eins-Werden mit dem unendlichen Sein kann er seinem Leben einen Sinn geben und Kraft zum Erleiden und zum Wirken finden.

Albert Schweitzer (1875 – 1965)

Von Mystik und Theosophie angeregte Sakralkunst

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zu­sammenbruch des deutschen Kaiserreichs fanden sich in einer Zeit der gesellschaftlichen und politi­schen Verunsicherung Vertreterinnen und Vertreter der bildenden Kunst, Literatur, Architektur und Musik aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Jakob-Böhme-Bund zusammen. Sie waren auf der Suche nach neuen Impulsen und strebten von Görlitz aus gemeinsam nach einer Erneuerung der Künste. Den geistigen Mittelpunkt des Bundes bildete der Ma­ler und Schriftsteller Joseph Anton Schneiderfranken (Bô Yin Râ / 1876–1943).

Bewusst wählte der Jakob-Böhme-Bund den Görlitzer Mystiker Jacob Böhme (1575–1624) als seinen geisti­gen Vordenker. Böhmes philosophische Schriften, die während des 30-jährigen Krieges ebenfalls in einer Zeit der großen Verunsicherung entstanden waren, eröffneten den Mitgliedern des Bundes den Weg zu einer von Mystik und Theosophie angeregten neuen Sakralkunst. Damit wurde der Jakob-Böhme-Bund zur ersten Künstlervereinigung in Deutschland, »die bewusst mystischem Erleben Ausdruck zu geben« suchte, wie es ein zeitgenössischer Autor formulierte.

Am Ort von Böhmes einstigem Wirken trat die nach ihm benannte Künstlervereinigung 1920 erstmals an die Öffentlichkeit. Wie Joseph Anton Schneiderfranken betonte, erfolgte ihre Gründung auch »um zu zeigen, daß Görlitz in der Reihe der deutschen Städte, in denen neuere künstlerische Bestrebungen am Werke sind, durchaus nicht die letzte Stelle einzunehmen ge­sonnen sei«. Mit diesem Ziel erreichte der Jakob-Böh­me-Bund innerhalb kurzer Zeit eine weit über Görlitz hinausreichende Resonanz. Obwohl er sich bereits 1924 wieder auflöste, wirkten seine Ideen bei vielen Mitgliedern noch lange fort. Erstmals nach seiner Auf­lösung vor einhundert Jahren widmet sich die Sonder­ausstellung ausführlich dem Jakob-Böhme-Bund.

Text des Faltblattes zur Ausstellung vom 4. Mai bis 17. November, das hier heruntergeladen werden kann: https://www.goerlitzer-sammlungen.de/uploads/Museum/Sonderausstellungen/Aktuelle/die_Suchenden/dieSuchenden_Faltblatt_WEB.pdf

Zum mystischen Kern vordringen

Foto: (c) wak

Im Herzen dieser Kirche ist das mystische Element, das sie am Leben hält, das Erbe Jesu. Zu diesem mystischen Kern immer wieder vorzudringen – das ist die letzte Grenzerfahrung der christlichen Mystik.

David Steindl-Rast (*1926)

Aus seinem Herzen fließt das Erbarmen

Milarepa / Foto: (c) wak

Für den Weisen ist jenseits aller Gegensätze alles eins mit dem Absoluten. Wer das verwirklicht hat, der hat nicht mehr unterscheidendes Bewusstsein, sondern höchste Erkenntnis, in der er nicht mehr die Kreaturen schaut, sondern nur noch den Buddha, der in jedem Wesen ist; er schaut nicht mehr die Dinge, sondern nur noch die höchste Wahrheit. Aus seinem Herzen fließt das Große Erbarmen.

Milarepa (1052-1135)

Auf dem Weg zur transzendenten Erfahrung

Foto: MAGISCHE BLÄTTER

Mystik, von Myein abgeleitet, meint aber ursprünglich nichts Verschwommenes, sondern ein geübtes und gekonnt Sich-Verschliessen gegen Aussen und Versenken in das Innere. Der Mystiker verkennt nicht die kritisch erarbeiteten Grenzen rationaler Erkenntnis, er weiss, dass sein Verstand das Transzendente nicht fassen kann. Er steht nur insofern im Gegensatz zu positivistischer Philosophie, als er neben den irdischen noch eine andere Art von „Sinnen“ im Menschen annimmt, eine latente Fähigkeit also, durch geist-seelische Kräfte die transzendente Wirklichkeit wahrzunehmen und zu erkennen. Eben dieses geist-seelische Wahrnehmungsvermögen, das jedem Menschen innewohnt, das aber meist im Un-bewussten verkümmert, soll in der meditativen Versenkung entfaltet werden. Der geistig Meditierende negiert nicht das rationale Erkennen, er versucht nur, diese Erkenntnisweise zu ergänzen. Will der Philosoph primär das Erfahrbare aus dem Zusammenhang heraus oder auf ihn hin interpretieren, so sucht der Mystiker dagegen primär die individuelle transzendente Erfahrung als solche und den Weg dahin, er kann dabei auf jede Interpretation verzichten.

„Arbeitshypothese“ von Wilhelm Bodmershof

XVI. MAGISCHE BLÄTTER BUCH
CIV. Jahrgang – Winter 2023/2024

Film und Theater im Jakob-Böhme-Bund (Januar | Heft 48)

EINZELBUCH, 427 Seiten, 20,00 € (zuzüglich Versandkosten) ISBN 978-3948-5941-4-5

Herausgeber: Verlag Magische Blätter – Ronnenberg | Schriftleitung: Organisation zur Umwandlung des Kinos

Bestellungen hier: kontakt@verlagmagischeblaetter.eu subject: BESTELLEN MAGISCHE BLÄTTER BUCH XVI

Herz und Hirn lebendig werden lassen

Titelseite „Das Buch vom lebendigen Gott“

Wer Bô Yin Râs „Buch vom lebendigen Gott“ richtig erfassen will, der lese es, wie man etwas durchaus Neues liest, – lese es in Ruhe, mit äußerster Sorgfalt und Hingabe, bis der Sinn in Herz und Hirn lebendig wird und den eigenen Gedanken hilft, sich weiterzuspinnen, – lese es vor allem, ohne irgendwelche Maßstäbe bisherigen Wissens über Mystik, Okkultismus, Magie, Theosophie oder dergleichen Gebiete anzulegen: es würde nur das richtige Verständnis verschließen und aus dem „Buch vom lebendigen Gott“ ein Buch mit sieben Siegeln machen.

In: Das Vorwort zu Bô Yin Râs Buch vom lebendigen Gott von Gustav Meyrink

Das komplette Vorwort kann hier gelesen werden:

XVI. MAGISCHE BLÄTTER BUCH
CIV. Jahrgang – Winter 2023/2024

Das Lehrwerk und sein Vorhof (HEFT 47 | Dezember 2023)

EINZELBUCH, 427 Seiten, 20,00 € (zuzüglich Versandkosten) ISBN 978-3948-5941-4-5

Herausgeber: Verlag Magische Blätter – Ronnenberg | Schriftleitung: Organisation zur Umwandlung des Kinos

Bestellungen hier: kontakt@verlagmagischeblaetter.eu subject: BESTELLEN MAGISCHE BLÄTTER BUCH XVI

Zeugnis der Wahrheit

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Zen ist das eigentlich Religiöse in jeder Religion. Es ist das Grundwasser für die Fruchtbarkeit jeglicher mystischer Erfahrung und damit auch eine wundervolle Bestätigung der Wahrheit christlich-jüdischer Tradition mit ihrem Menschenbild als Bild und Gleichnis Gottes und somit als Unendlichkeitswesen.
Es ist geradezu ein Zeugnis dieser Wahrheit: Die unendliche Wirklichkeit, die in größter Wortscheu in jüdisch-christlicher Tradition Gott genannt wird, ist in der menschlichen Natur angelegt.
Besser gesagt: Die menschliche Natur ist auf Gott hin angelegt.

P. Johannes Kopp (1927 – 2016) in: Gebet als Selbstgespräch. Gebet und Koan als Beziehung zu Gott in mir. 2. Auflage Dezember 2014., S. 18/19

Annäherungen an das Unbegreifliche

Wenn wir aus der Perspektive der Mystik das Nichts in den Blick nehmen, geht es, zumal wenn wir uns nicht auf die abendländische Sprachwelt beschränken, weniger um den Gegensatz von Sein und Nicht-Sein als um „Stichworte“ wie Leere, das Abgründige, die Weite, Finsternis und Licht. Wir sprechen bewusst nicht von „Begriffen“, da es bei den genannten Stichworten um mehr als um „Begriffe“ geht. Vielfach verbinden sich mit ihnen bildhafte Vorstellungen, obwohl sie Bildloses zu bezeichnen suchen und Versuche sind, das, was sich dem im Begriff Begriffenen entzieht, zu beschreiben und so letztlich Annäherungen an das Unbegreifliche sind. So gehört zur Leere die Fülle und das Vollkommene zum Abgründigen, das was Halt schenkt, zur Finsternis, wie gesagt das Licht, zur Trockenheit das lebenspendende Wasser, zur Enge der Erde die Weite des Himmels.

Hans Waldenfels (1931 – 2023) in: Absolutes Nichts – zwischen Licht und Finsternis. Von der Ambivalenz des Nichts

Der vollständige Text kann hier gelesen werden: https://hans-waldenfels.de/download/Absolutes%20Nichts.pdf

Herz im Himmel – Himmel im Herzen

Meditationsbild des Nikolaus von Flüe / Archiv

Die seit der Aufklärung verbreitete Meinung, Mystiker seien weltfremd-unpraktische, phantastisch-verzückte, grotesk-abstruse Sonderlinge ohne Sinn für die konkrete Wirklichkeit, ist durchaus unzutreffend, wenigstens für die katholische Mystik, deren berufene Lehrer stets grundsätzlich vor solchen Einseitigkeiten warnten und zu klugem Maßhalten rieten. Wohl aber finden wir unter den Mystikern und Heiligen zwei einander gegenüberstehende Typen, zwei Hauptgattungen, die je nach ihrer persönlichen Anlage eine verschiedenartige Wirksamkeit entfalten. Die Einen ziehen sich so völlig als nur möglich von allen weltlichen Dingen für immer zurück und vertiefen sich ausschließlich in Gott und in die eigene Seele, in der sie ja Gott finden. Die Welt ist für sie versunken. Sie leben nach dem Augustinusworte „ Deum et animam scire cupio. — Nihilne plus — Nihil omnino“ / „Gott und die Seele möchte ich kennen lernen, nichts mehr, überhaupt nichts mehr“. So lebten die Asketen der thebäischen Wüste, so die irischen Mönche auf Island, so manche europäische Reklusen. — Die Andern halten wohl auch Gott in ihrer Seele fest und suchen „ Vergottung“, aber sie suchen zugleich auch ihre Umwelt zu „vergotten“. Während jene ihr Herz im Himmel haben und nur von ferne für die Welt beten, haben diese den Himmel in ihrem Herzen und lassen sein Licht in die Welt hinausstrahlen, indem sie Beispiel geben, lehren, raten, mahnen, tadeln und Frieden stiften. Diese beiden extremen Typen stehen sich aber nicht etwa als feindliche, unvereinbare Gegensätze gegenüber. Sie sind durch mannigfache Übergänge mit einander verbunden, und unzählige Fromme, Selige und Heilige der Kirche haben in glücklichster Harmonie persönliches Innenleben und soziales Gemeinwirken zu vereinigen gewußt, ja diese Verbindung erscheint schon in früher Zeit als das ausgesprochene Ideal des religiösen Lebens.

Wilhelm Oehl (1881 -1950) in „Bruder Klaus und die deutsche Mystik“ in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 11 (1917)