Das Gebot, das ich in der Natur der Minne erkenne, bringt meine Sinne in Verwirrung. Es hat keine Form, weder Ursache noch Gestalt, dennoch hat es den Geschmack eines Geschöpfes. Es ist die Materie meiner Freude, nach der ich immer dürste.
Vor aller Zeit, vor allen Welten, Vor dem Anbruch eines jeden Zeitalters, vor dem Anbruch einer jeden Welt, ist Gott! Und Er bleibt Jenseits aller kommenden Zeitalter, und jenseits Aller ungedachten Welten, die noch sein mögen! Er ist, in allem, was ist, in allem, was noch nicht ist: Noch heute wohnt Er im Ton des Akkords Der morgen von den Saiten meiner Harfe erklingt.
Die Seele ist ein Weg, durch den Gott aus seinem Tiefsten in ihre Freiheit herauskommt; und Gott ist ein Weg, auf dem die Seele in ihre Freiheit herauskommt, d. h. in seinen Grund, an den nicht ohne der Seele Tiefe gerührt werden kann. Solange Gott noch nicht ganz der Seele gehört, kann er ihr auch noch nicht vollkommen genügen.
Hadewijch von Antwerpen (13. Jahrhundert) | Brief 18, 69–79
Wenn ich dieses Buch nun übersetzt habe, so geschah es einzig und allein, weil ich glaube, dass die Schriften der Mystiker die reinsten Diamanten im wunderbaren Kronschatz der Menschheit sind, wiewohl eine Übersetzung vielleicht unnütz ist; denn die Erfahrung scheint zu lehren, dass sehr wenig darauf ankommt, ob das Mysterium der Fleischwerdung eines Gedankens sich im Licht oder in der Finsternis vollzieht; genug, dass es stattgefunden hat. Aber wie dem auch sein möge, die mystischen Wahrheiten haben vor den gewöhnlichen Wahrheiten ein seltsames Vorrecht: sie können weder altern noch sterben.
MauriceMaeterlinck (1862 – 1949) in der Einführung zu seiner Übersetzung von Jan van Ruysbroecks „Zierde der geistlichen Hochzeit“ – Erschienen ist der Text auch in Maeterlincks Buch „Der Schatz der Armen“. Florenz / Leipzig 1898
Das Jacob Böhme Lesebuch: Paul Hankamer, 1925 / Ronald Steckel, 2022
Wir nehmen doch nichts mit von dieser Welt, was zanken wir denn um das Eitele, und verscherzen damit das Unvergängliche; es muss doch zu dem Ziel kommen, oder wird ja noch böser werden; und welch Volk nicht wird wollen in dies Ziel eingehen, das muss ganz ausgezehrert und gefressen werden, deutet der Geist der Wunder.
Jacob Böhme (1575 – 1624 in Görlitz) in: Zweyte Schutz-Schrift wider Balthasar Tilken, S. 322, 324 – 325
In: Das Jacob Böhme Lesebuch. Aus Jacob Böhmes Schriften ausgewählt und eingeleitet von Paul Hankamer (1925). Neu herausgegeben, erweitert und mit einem Glossar versehen von Ronald Steckel (2022), Verlag Magische Blätter, Ronnenberg, S. 53
Die Seele ist eine Bodenlosigkeit, worin Gott sich selbst genügt, und sein eigenes Selbstgenügen findet sein vollstes Genießen in ihr und sie wiederum in ihm. Die Seele ist ein Weg, durch den Gott aus seinem Tiefsten in ihre Freiheit herauskommt; und Gott ist ein Weg, auf dem die Seele in ihre Freiheit herauskommt, d. h. in seinen Grund, an den nicht ohne der Seele Tiefe gerührt werden kann. Solange Gott noch nicht ganz der Seele gehört, kann er ihr auch noch nicht vollkommen genügen.
Weder ist dieses Licht sinnlich, noch schauten es die, die es schauten, mit rein sinnlichen Augen, sondern mit solchen, die durch die Kraft des göttlichen Geistes gewandelt waren.
Wisset, meine Seele ist so jung, wie da sie geschaffen ward, ja, noch viel jünger! Und wisset, es sollte mich nicht wundern, wenn meine Seele morgen noch jünger wäre als heute!
Meister Eckhart (1260 – 1328)
Gefunden habe ich diesen Text hier: Alois M. Haas / Thomas Binotto: Meister Eckhart – der Gottsucher. Aus der Ewigkeit ins Jetzt. Freiburg/Br. 2013