In den östlichen Religionen spricht man von buddhi als dem intuitiven Organ in uns. „Tiefer als der Verstand ist der buddhi.“ Dieses innere Auge wird durch das göttliche Licht erleuchtet, damit der Mensch die alles durchdringende Gegenwart Gottes wahrnehmen kann. Für die Mystiker im Westen wie im Osten ist dieses intuitive Wahrnehmungsorgan die Tür zum Herzen, zum göttlichen Raum im Menschen. Die Wahrnehmungen auf der Verstandesebene und in der intuitiven Tiefe geschehen in unterschiedlicher Weise. Der Verstand fragt nach der Logik, während die Intuition die Mystik sucht. Der Verstand nimmt die Dualität zwischen Subjekt und Objekt wahr; die Intuition aber erfährt sie als Einheit.
Wenn du in der Lage bist, dich zu entspannen – dich für eine Wolke öffnen, die du siehst, einen Regentropfen in seiner ganzen Wirklichkeit erfahren –, so kannst du die Unbedingtheit der Wirklichkeit direkt sehen: Sie ist in den Dingen, so wie sie sind, ganz einfach. Wenn du die Dinge anschauen kannst, ohne zu sagen: “Dies ist für mich, das ist gegen mich”, oder “Hiermit stimme ich überein, damit nicht”, dann erfährst du den Seinszustand des kosmischen Spiegels, die Weisheit des kosmischen Spiegels. Ob du eine Fliege vorbeisummen oder eine Schneeflocke fallen siehst, ob es Wellen im Wasser sind oder eine scharze Spinne – all das nimmst du einfach wahr, in vollkommener Aufnahmebereitschaft, ohne “Ja” und “Nein”.
Wir arbeiten nicht, um die Wirklichkeit wahrzunehmen, sondern um den Geist zu läutern. Keine zehn Millionen Handlungen bringen die Wahrnehmung der Wirklichkeit zustande, es geschieht nur durch klares Unterscheiden.
Wenn du ins Heiligtum des Schweigens eingetreten bist, werden sich dir die Pforten des Himmelreiches deiner Seele öffnen. Du wirst eine Herrlichkeit schauen, die kein irdisches Auge wahrnahm. Du wirst einer Melodie lauschen, die sonst kein menschliches Ohr zu vernehmen vermag. Dann wirst du eine seelische Wiedergeburt und göttliche Seligkeit erleben und wünschen, daß du von diesem himmlischen Schweigen nie getrennt werden mögest.
Hossein Kazemzadeh Iranschähr (1884 – 1962) in: Die Heilkraft des Schweigens
Gott ist in allen Kreaturen gleich „nahe“. Der weise Mann sagt: Gott hat seine Netze und Stricke über alle Kreaturen aus gespreitet, so daß man ihn in einer jeglichen finden und erkennen kann, wenn man‘s nur wahrnehmen will. Ein Meister sagt: Der erkennt Gott recht, der ihn in allen Dingen gleicherweise erkennt. …
Ein Mensch gehe übers Feld und spreche sein Gebet und erkenne Gott, oder er sei in der Kirche und erkenne Gott: erkennt er darum Gott mehr, weil er an einer ruhigen Stätte weilt, so kommt das von seiner Unzulänglichkeit her, nicht aber von Gottes wegen; denn Gott ist gleicherweise in allen Dingen und an allen Stätten und ist bereit, sich in gleicher Weise zu geben, soweit es an ihm liegt; und der (nur) erkennte Gott recht, der ihn als gleich erkennte.
Meister Eckhart (1260 – 1328) Predigt 36 zu Lukas 21, 31: Scitote, quia prope est regnum dei
Kraftfelder wirken auf den Betrachter unbewusst oder bewusst. Diese „Strahlung“ macht die Sakralkunst aus. Die allgemeine Kunstrezeption bewegt sich weitgehend auf der Wahrnehmungsebene der farbigen Leinwand; es wird diesen Kraftfeldern nicht wirklich Aufmerksamkeit geschenkt, und es ist generell fraglich, ob die moderne Kunstrezeption überhaupt über Sensoren für das Sakrale in der Kunst verfügt. Die Kraftschwingung sakraler Bilder lässt sich nicht nur durch die Betrachtung des Bildes selbst wahrnehmen, sondern es ist möglich, sich dem Kraftfeld durchaus bei geschlossenen Augen auszusetzen.
Aus: Der historische Jakob-Böhme-Bund und der Jacob-Böhme-Bund der Gegenwart (8)
MAGISCHE BLÄTTER BUCH VIII CII. JAHRGANG WINTER 2021/2022
Erst wenn nichts mehr ist, entdeckt der Mensch in der Ich-Erkenntnis die christliche Substanz und nimmt sie ganz real wahr. Das ist eine Erkenntnis. Die ist so exakt und muss sich exakt vollziehen wie ein Experiment im Labor.
Willst du also beten, vergiss alles, was du getan hast oder vorhast zu tun. Weise alle Gedanken ab, gleich ob gute oder böse. Gebrauche beim Beten keine Worte, es sei denn, du fühlst dich innerlich dazu gedrängt. Betest du aber doch mit Worten, so kümmere dich nicht darum, ob es viele oder wenige sind. Beachte sie nicht, denke nicht daran, was sie bedeuten. Mache dir auch keine Gedanken um die Art des Gebetes. Es ist völlig gleich, ob es offizielle liturgische Gebete sind wie Psalmen, Hymnen, Wechselgesänge oder Fürbitten, und auch, ob du nur in Gedanken betest oder vernehmlich. Nur eines habe im Sinn: in deinem Herzen eine einfache, tiefe Sehnsucht nach Gott zu hegen. Denke nicht darüber nach, wer oder was er ist oder wie er sich in seinen Werken offenbart. Ruhe in dem einfachen Bewusstsein, dass er „ist”. Ich bitte dich, laß ihn so, wie er ist. Versuche nicht, ihn genauer zu erfassen und tiefer einzudringen, sondern bleibe in schlichtem Vertrauen verwurzelt in Gottes Sein wie in festem Grund. Diese von allen Gedanken freie Aufmerksamkeit, die im Vertrauen wurzelt und gründet, wird dich von allem Denken und Wahrnehmen frei machen und dir nur das reine Bewusstsein und das dunkle Innesein deines eigenen Daseins lassen. Dein ganzes Empfinden aber ist erfüllt mit lauterer Sehnsucht nach Gott, die spricht:
„Mein Sein bringe ich dir, Herr, ohne nach einer deiner Eigenschaften zu fragen. Ich schaue nur darauf: Du bist. Nur das habe ich im Sinn, sonst nichts.„