Margarete Porete: Frei und göttlich

Eingangsgedicht ihres „Spiegel der einfachen Seelen“ / wikimedia ~ gemeinfrei

Der innere Zustand des Nicht-Wissens und des Nicht-Wollens befreit die Seele. In Wahrheit ist es doch ein Nichts, das uns über Gott vermittelt werden kann oder können wird. Gott ist so groß, dass die Seele nichts von ihm begreifen kann. Und dieses Nichts gibt ihr das Ganze, denn sie hat alles frei gegeben, ohne irgendein Warum. Dann gelangt sie zu einem Erstaunen, das man das Nicht-Denken von nahem Fern-Denken nennt, das ihr ganz nahe ist. Dann nämlich lebt die Seele nicht nur im Leben der Gnade und nicht nur im Leben nach dem Geist, sondern auch im göttlichen Leben, frei und göttlich. Dann nämlich hat Gott sie geheiligt durch Sich Selbst.

Die Begine Margarete Porete (1250-1310)

Siehe auch hier: https://www.feinschwarz.net/marguerite-poretes-widerstand/

Die Seele lebt frei und göttlich

Begine aus einem Totentanz / Archiv

Das Nicht-Wollen in Gott gilt mehr als das gute Wollen für Gott. Der innere Zustand des Nicht-Wissens und des Nicht-Wollens befreit die Seele. In Wahrheit ist es doch ein Nichts, das uns über Gott vermittelt werden kann oder können wird. Gott ist so groß, dass die Seele nichts von ihm begreifen kann. Und dieses Nichts gibt ihr das Ganze, denn sie hat alles frei gegeben, ohne irgendein Warum. Dann gelangt sie zu einem Erstaunen, das man das Nicht-Denken von nahem Fern-Denken nennt, das ihr ganz nahe ist. Dann nämlich lebt die Seele nicht nur im Leben der Gnade und nicht nur im Leben nach dem Geist, sondern auch im göttlichen Leben, frei und göttlich. Dann nämlich hat Gott sie geheiligt durch Sich Selbst.

Margarete Porete (1250-1310)

Das Sprechen der Mystiker

Kirchenfenster von Josef Albers / Foto: (c) wak

Das Sprechen der Mystiker ist von zwei Grundzügen bestimmt: einmal dem inneren Drang, sich mitteilen zu müssen, da die Gewalt des Erfahrenen übermäßig ist; zum anderen von der Not, das, was man eigentlich sagen möchte, nicht angemessen ausdrücken zu können, da es alle Maße des Begreifens, Fühlens und Sprechens übersteigt. Von da her erklärt sich die innere Bewegung, die alle mystischen Texte durchströmt, die Fülle der Bilder, mit denen man das im Grunde Unsagbare zu umschreiben versucht; andererseits aber auch die Helligkeit und Durchsichtigkeit der geistigen Sprache aus dem Bemühen heraus, der Höhe des Gegenstandes — Gott, Seele und die Vereinigung beider — gerecht zu werden. Die Mystiker sehen sich also gedrängt, von etwas sprechen zu müssen, von dem sie wissen, daß es sich eigentlich dem Worte entzieht, da es „über alle Worte und Weise, ja über alles, das man nennen und begreifen kann“, hinausgeht. Meister Eckhart hat einmal in einer Predigt gesagt: „Wenn hier [in der Kirche] niemand gewesen wäre, so würde ich {diese Predigt] dem Opferstock gepredigt haben.“ So hören wir denn die Mystiker immer wieder von dem inneren Zwang sprechen, der sie von der Seligkeit der unio künden läßt, wie auch von dem Wissen, daß der Gegenstand ihrer Rede jedes Wort übersteigt. Große, weiträumige Bewegung im Gefüge der Sätze und Abschnitte, ferner Fülle der Bilder und endlich eine hohe Abstraktion sind die Folge der inneren Lage des Mystikers, wenn er sich mitteilt. Selbst unsere übersetzten Texte vermögen von der großartigen Verfassung dieser Rede noch einen Eindruck zu geben.

Einleitungskapitel: Das unangemessene Wort. In: Eckhart, Tauler, Seuse. Ein Textbuch aus der altdeutschen Mystik. Ausgewählt, übersetzt und mit Einführung, Erläuterungen und Bibliographien herausgegeben von Hermann Kunisch. Hamburg 1958, S. 11

Im Bewusstsein liegt das mystische Tun

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Die mystischen Autoren streiten darüber, ob die Aktion der Kontemplation als eine Vorbereitung vorausgehen, oder aber aus ihr als ein göttlicher Überfluß hervorquellen sollte. Ich bekenne, daß ich diese Probleme nicht begreife. Ob ich wirke oder bete, ob ich meine Seele mühsam durch die Arbeit öffne oder ob Gott sie durch die Passivitäten des Außen und des Innen überflutet, ich habe in gleicher Weise das Bewußtsein, mich zu vereinen. In diesem Bewußtsein aber liegt „formal“ das mystische Tun.

Pierre Teilhard de Chardin (1881 -1955) in: Mein Universum.

Erhellung der Wirklichkeit

Foto: (c) wak

Zur Wirklichkeit zu erwachen bedeutet, dass Form und Leerheit (Gott und Welt) zwei Aspekte der einen Wirklichkeit sind. Die Realisation dieser Wirklichkeit besagt, dass am Ursprung Bewusstsein steht, auch wenn der Mensch durch seine Körperidentifikation egobedingt ein grobstoffliches Universum wahrnimmt. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die Schlange, die man in einem Stück Seil im Dunkeln wahrzunehmen glaubt. Angst und Entsetzen werden ausgelöst durch etwas, was nicht existiert. Wird das Stück Tau als solches erkannt, verschwinden Angst und Entsetzen. Erleuchtung ist nichts anderes als eine Erhellung der Wirklichkeit. Wer erkennt, dass es keinen Unterschied zwischen Form und Leerheit, zwischen Samsara und Sunyata (Brahman), zwischen dieser Form und der Nichtform, gibt, ist auferstanden.

Die Wirklichkeit spricht sich in allem aus, was Form hat. Immer ist der Mensch Sohn und Tochter Gottes, wie das Thomasevangelium sagt: „Wenn man euch fragt: ‚Wer seid ihr?‘, sagt: ‚Wir sind seine Söhne und Töchter und wir sind die Erwählten des lebendigen Vaters’“ (Thomasevangelium, 50). – Auch wenn es der Verstand nicht begreift: Wiedererstehen wird immer nur die Erste Wirklichkeit, die wir hier und jetzt leben.

Willigis Jäger (1925 – 2020)

Die Frucht liegt im Akt des Begreifens

Umschlag eines Kataloges der Galerie Boisserée, Köln

„Die Frucht
liegt nicht
in der Erkenntnis,
sie liegt
im Akt des Begreifens.“

Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153)

Ja, das ist ein Satz,
der mich sehr beeindruckt hat.

Pierre Soulages (1919 – 2022)

Hier der Link zum Katalog der Ausstellung: https://www.pierre-soulages.com/wp-content/uploads/2015/04/DOC_CAT_Boisseree_Malereu_und_grafik_2009.pdf

Wünsche Deine Wahrheit zu begreifen

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Ich versuche nicht, Herr,
zu Deiner Höhe zu dringen,
weil mein Verstand mit ihr
in keinen Vergleich zu bringen ist;
ich wünsche nur einigermaßen Deine Wahrheit zu begreifen,
die mein Herz glaubt und liebt.
Denn ich suche nicht
zu begreifen, um zu glauben,
sondern glaube, um zu begreifen.

Anselm von Canterbury (* um 1033 – 1109)

Alles was gedacht und wahrgenommen wird

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Alles nämlich, was eingesehen und wahrgenommen wird, ist nichts anderes als die Erscheinung des nicht Erscheinenden, die Manifestation des Verborgenen, Affirmation des Negierten, Begreifen des Unbegreiflichen, das Sagen des Unsagbaren, der Zugang zum Unzugänglichen, Einsehen des Uneinsehbaren, Körper des Unkörperlichen, Wesen des Überwesentlichen, Form des Gestaltlosen, Maß des Unmeßbaren, Zahl des Unzählbaren, Gewicht des Gewichtlosen, Festwerden des Geistigen, Sichtbarkeit des Unsichtbaren, Ort des Ortlosen, Zeitlichkeit des nicht Zeitlichen, Begrenzung des Unendlichen, Umgrenzung des nicht Umgrenzten, und das Übrige, was mit bloßem Intellekt sowohl gedacht wie erblickt wird, und nicht in den Windungen des Gedächtnisses eingefangen werden kann und der Schärfe des Geistes entflieht.

Scotus Eriugena (815 – 877)

Die zwei geistlichen Füße des Mystikers

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Der Mystiker nimmt in bildlicher Vorstellung an, er habe zwei geistliche Füße: den begreifenden Verstand und den liebenden Affekt. Es ist notwendig, auf beiden vorwärtszuschreiten, damit man die geheimen Wege der Beschauung glücklich bis ans Ende zu begehen vermag. Denn der Intellekt hinkt ohne den liebenden Affekt und käme nicht rüstig voran; die Liebesneigung ohne den Verstand aber ist blind; sie fände den Weg nicht und müsste sich verirren.

Hendrik Herp / Harphius (ca. 1400/1410 – 1477/1478) in seiner „Theologia mystica“