Heimliches Suchen des Einen

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Zu uns gehört
ein heimliches Suchen des Einen,
das weit über dem Verstand
und dem Begreifen liegt.

Proklos (412 – 485)

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Eins werden mit dem Einen

Bild: Archiv

Weil und solange der Mensch mit den äußeren Bildern umgeht und in ihnen aufgeht, ist es unmöglich, daß er in diesen Grund hinabgelangt, und solange glaubt er nicht, daß er in ihm ist. Wer aber zu ihm gelangen und seiner inne werden will, der muß sich der Mannigfaltigkeit der äußeren Bilder entzogen und sich ganz dem inneren Bilde zugewendet haben, und er muß schließlich über das Schauen des Bildes hinaus zur Bildlosigkeit weiterschreiten und eins werden mit dem Einen.

Proklos (412 – 485) in einer Predigt von Johannes Tauler (1300 – 1361)

Durchbruch des Nichts – Johannes Tauler und Zen

Seine Sprache ist wie ein Bergquell, der aus harten Felsen hervorbricht, wunderbar geschwängert von unbekanntem Kräuterduft und geheimnisvollen Steinkräften.
Heinrich Heine

Foto: © wak

 

„Du musst auf dein Nichts gewiesen werden und sehen, was in dir verborgen und verdeckt liegt. Bleib bei dir selber!“ Oder: „Soll Gott sprechen, so musst du schweigen, soll Gott eingehen, so müssen alle Dinge ihm den Platz räumen.“ Oder: „Du sollst dieses tiefe Schweigen oft und oft in dir haben und es in dir zu einer Gewohnheit werden lassen, so dass es durch Gewohnheit ein fester Besitz in dir werde.“ Anweisungen eines buddhistischen Zen-Meisters? So könnte man auf den ersten Blick zunächst meinen. Doch es sind die Worte eines Menschen des Spätmittelalters, eines christlichen Mystikers. Es sind Sätze von Johannes Tauler, der wahrscheinlich kurz nach 1300 geboren wurde und 1361 starb. Das ihm lange Zeit zugeschriebene Adventslied „Es kommt ein Schiff geladen …“ kennen viele. Weniger bekannt jedoch ist die tiefe mystische Schau Taulers, die in weiten Teilen ganz erstaunliche Parallelen zum Zen aufweist. Sie ist nicht in philosophisch-theologischen Abhandlungen spekulativer Mystik überliefert, sondern in knapp über achtzig Predigten, die vermutlich kurze Zeit nach dem Tode Taulers niedergeschrieben wurden.

Was ist Zen? Und was ist Mystik?

Eine Bemerkung vorab: Wer in der umfangreichen Literatur zum Zen der Frage „Was ist Zen?“ nachgeht, stößt auf mehr oder weniger einleuchtende Be-und Umschreibungen, die häufig in negativer Darstellung angeben, was Zen nicht ist. Was aber ist Zen? Diese Frage muss beantwortet werden, bevor wir Parallelen bei Tauler suchen und finden können. „Zen lehrt, dass die Buddha-Natur, oder die Möglichkeit, Erleuchtung zu erreichen, in jedem innewohnt, aber aus Unwissenheit brachliegt …“ Erreicht wird die Erleuchtung »mit einem plötzlichen Durchbruch der Grenzen des gewöhnlichen, alltäglichen, logischen Denkens« beschreibt die „New Encyclopaedia Britannica“ den Sinn des Zen. Mit den Sätzen: „Im Mittelpunkt der Zen-Praxis steht die ‚sitzende Versenkung‘ (zazen). Sie soll zur Erleuchtung (satori) führen, der plötzlich eintretenden Erkenntnis der Einheit allen Seins, des Heiligsten und des Profansten“, versucht „Meyers Enzyklopädisches Lexikon“ dem Wesen des Zen näher zu kommen.

Und ein Zweites: Was ist Mystik? Das ist wohl am klarsten und eindeutigsten mit dem zu fassen, was der Mystiker erfährt: „Durch die mystischen Berührungen wird der Mensch aus seinem verteilten, gewöhnlich-tag-täglichen Bewusstsein herausgeholt. Er wird ‚eingekehrt‘ und spürt nun, dass in seinem ‚Herzen‘ etwas geschieht. Er wird weiter aus der ‚Eigenheit‘ heraus- und in seinen ‚Grund‘ hereingezogen. Dieser plötzliche Übergang vom Durchschnittsbewusstsein, wo er selbst Herr und Meister ist, zu dem Niveau, auf dem sich der ‚ganz Andere‘ fühlen lässt, ist ein erschütterndes Erlebnis,“ schreibt Paul Mommaers. Und genau darauf gilt es, sich stets neu einzulassen.

Ganz Schüler Meister Eckharts / Foto © wak

 

Weg und Wirkung Johannes Taulers

Wahrscheinlich kurz nach 1300, so wird berichtet, ist Tauler als Sohn einer Straßburger Patrizierfamilie geboren. Früh tritt er in den Predigerorden der Dominikaner ein, widmet sich der Seelsorge und predigt etwa ab 1330 vor allem in Gemeinschaften der Dominikaner und in Häusern der Beginen. Im Zuge eines politischen Machtkampfes zwischen Kaiser und Papst muss Tauler jedoch zusammen mit den anderen Dominikanern aus Straßburg emigrieren. Er geht zunächst nach Basel ins Exil. Verschiedene Reisen führen ihn später nach Köln und an den Niederrhein, bis er 1361 in seiner Heimatstadt stirbt. Die Wirkungsgeschichte Taulers ist ebenso wechselhaft wie eindrucksvoll. Seine Predigten beeinflussten den frühen Reformatoren Martin Luther ebenso wie Luthers Gegenspieler, den revolutionären Thomas Münzer der Bauernkriege. Fast ins Schwärmen kommt im 19. Jahrhundert der Dichter Heinrich Heine in seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, wenn er schreibt: „Hier erwähnen wir daher namentlich des Johannes Tauler … Er gehörte zu jenen Mystikern, die ich als die platonische Partei des Mittelalters bezeichnet habe… Seine Sprache ist wie ein Bergquell, der aus harten Felsen hervorbricht, wunderbar geschwängert von unbekanntem Kräuterduft und geheimnisvollen Steinkräften.“ Die geistesgeschichtliche Traditionslinie, auf die Tauler sich bezieht, beginnt mit dem spätantiken Philosophen Proklos (411 – 485 n. Chr.), also etwa um die Zeit, als Bodhidarma, der vor allem in China lebte und 528 gestorben ist, den Zen-Buddhismus begründete. Tauler zitiert Proklos als „heidnischen Lehrmeister“ mit den Worten „willst du aber noch höher kommen, so lass das vernünftige Hinschauen und Anstarren, denn die Vernunft liegt unter dir, und werde eins mit dem Einen. Und er nennt das Eine eine göttliche Finsternis, still, schweigend, schlafend, übersinnlich.“ Auf Proklos stützt sich auch Dionysius Areopagita (um 550 n. Chr.). In seiner Abhandlung über die „Unfassbarkeit Gottes“ schreibt er unter anderem: „Er allein ist der Urgrund, der allumfassende Ursprung alles Seins und Nichtseins, darin Vollkommenheit und Überschwang, die Fülle von Allem und der Verzicht auf alles und die Jenseitigkeit selbst über alles umschlossen liegt. Kein Sein und kein Nichtsein kann Ihn treffen und Ja und Nein erreichen Ihn nicht.“ Auf diese Traditionen greift Tauler zurück, die noch anzureichern sind mit Platon (428/27 – 348/47) und Plotin (um 205 – 270) und die ergänzt werden müssen mit den Kirchenvätern Augustinus (354 – 430) und Thomas von Aquin (1225/6 – 1274) sowie Dominikus (um 1170 – 1221), den Gründer des Dominikanerordens. Etwa in dieser Zeit waren übrigens innerhalb des Buddhismus in Japan die Rinzai-Schule (Eisai 1141 – 1215) und die Soto-Schule (Dogen 1200 – 1253) entstanden. Vor allem und in besonderer Weise ist jedoch der Mystiker Meister Eckhart (um 1260 – 1327) zu nennen, dessen direkter Schüler Johannes Tauler gewesen ist.

Foto: © wak

Aufstieg aus dem Grund

Für Johannes Tauler ist der Mensch immer im Aufstieg, immer in Bewegung. Denn nur so kann er zu dem Durchbruch gelangen, der ihn auf seinem Weg weiterbringt. Nicht eindimensional, sondern in drei Schichten bewegt sich nach Taulers Überzeugung der Mensch dabei von der Selbst- zur Gotteserkenntnis. Eine Passage aus der Predigt „Von der Geburt Gottes im Menschen“ verdeutlicht dies: „Die Seele hat drei edle Kräfte, in denen sie ein reines Abbild der heiligen Dreifaltigkeit ist: Gedächtnis, Verstand und freier Wille. Und mittels dieser Kräfte erfasst sie Gott und ist für ihn empfänglich, so dass sie alles dessen empfänglich werden kann, was Gott ist und hat und geben kann, und vermittels ihrer schaut sie in die Ewigkeit. Denn die Seele ist zwischen Zeit und Ewigkeit geschaffen: Mit ihrem obersten Teile gehört sie in die Ewigkeit, und mit ihrem untersten Teile, mit ihren sinnlichen, tierischen Kräften, gehört sie in die Zeit. Nun ist die Seele sowohl mit ihren obersten wie mit ihren untersten Kräften in die Zeit und die zeitlichen Dinge ausgeströmt, infolge der nahen Verwandtschaft, die die obersten Kräfte zu den untersten haben; daher wird ihr auch dieser Lauf sehr leicht, und sie ist sogar bereit, ganz in die sinnlichen Dinge auszulaufen, und geht so der Ewigkeit verlustig. Wahrhaftig, es muss notwendig ein Rücklauf geschehen, soll diese Geburt geboren werden, es muss eine kräftige Einkehr geschehen, ein Einholen, ein inwendiges Sammeln aller Kräfte, der untersten und der obersten, und so muss eine Vereinigung von aller Zerstreuung stattfinden …“

Louise Gnädinger beschreibt in ihrer Biographie des spätmittelalterlichen Mystikers Tauler, worum es ihm vor allem geht: „Im eigenen, als tief innerlich liegend empfundenen Abgrund stößt der Mensch, hat er sich den Weg dorthin einmal frei gemacht, auf den göttlichen Abgrund. Beide Abgründe, der menschliche und der göttliche, rufen einander zu und herbei, und in dem dynamisch wogenden Hin-und-Her-Rufen führt und leitet der göttliche Abgrund den menschlichen in sich hinein in den Umschwung der Gottheit“. Denn Tauler bleibt in seinen Predigten nicht dabei stehen, die Suche des Menschen nach Reichtum, Ordnung, Gestalt, Wahrheit, Wesen etc. in seiner Ganzheit zu beschreiben. Er geht weiter: „Er tastet nach der letzten Wesenstiefe im Menschen«, schreibt Josef Zapf. „Er ringt um den Überschritt in den göttlichen Grund. Dort vollzieht sich die Geburt Gottes im Menschen.“ Ganz entscheidend für diese Gottesgeburt im Menschen ist Taulers Überzeugung, dass der Mensch ein Nichts ist. Allerdings nicht in dem gemeinhin negativ verstandenen Sinn, sondern so begriffen, dass er dem eigenen Nichts auf den Grund geht. Dass er es sehen kann als Nichtigkeit und Sinnlosigkeit der Welt. Tauler meint, dass der Mensch „von Grund aus sein natürliches und sein gebrechliches Nichts erkennen“ soll. Der Mensch „muss alles lassen, dieses Lassens selbst noch ledig werden es lassen, es für nichts halten und in sein lauteres Nichts sinken.“ Tauler weiß: „Willst du in Gottes Innerstes aufgenommen, in ihn gewandelt werden, so musst du dich deiner selbst entäußern, aller Eigenheit, deiner Neigungen, aller Tätigkeit, aller Anmaßung, aller Weise, in der du dich selber besessen hast; darunter geht es nicht. Zwei Wesen und zwei Formen können nicht zugleich nebeneinander bestehen. Soll das Warme hinein, so muss das Kalte notwendigerweise hinaus. Soll Gott eintreten? Das Geschaffene und alles Eigene muss dafür den Platz räumen. Soll Gott wahrhaftig in dir wirken, so musst du in einem Zustand bloßen Erduldens sein; all deine Kräfte müssen so ganz ihres Wirkens und ihrer Selbstbehauptung entäußert sein, in einem reinen Verleugnen ihres Selbst sich halten, beraubt ihrer eigenen Kraft, in reinem und bloßem Nichts verharren. Je tiefer dieses Zunichtewerden ist, um so wesentlicher und wahrer ist die Vereinigung.“

Sich lösen von äußeren Bildern

Zu dieser Vereinigung von Gott und Mensch, die alle Trennungen aufhebt, gehört für den Seelsorger und Prediger, dass sich der Mensch von allen Bildern löst. „Man findet gar manchen, der in der bildhaften Weise sehr bewandert ist und große Freude an solcher Übung besitzt, aber keinerlei Zugang zur Innerlichkeit seiner Seele hat … Das kommt daher, dass sie zu sehr bei den sinnlichen Bildern verweilen und dabei verharren und nicht vorwärtskommen und nicht in den Grund durchbrechen, wo die lebendige Wahrheit leuchtet: denn man kann nicht zwei Herren dienen: den Sinnen und dem Geist.“ Seine Zuhörer fordert er auf, dass sie „die Bilder bald fahren lassen und mit flammender Liebe durch den mittleren in den allerinnersten Menschen hindurchdringen.“ Und wie Proklus meint Tauler: „Solange der Mensch mit den Bildern, die unter uns sind, beschäftigt ist und damit umgeht, wird er niemals in den Grund gelangen.“ Für Tauler gehört existentiell zum Gelingen des Durchbruchs die Abgeschiedenheit vom Äußeren, das Aufgeben der Anhänglichkeit an Dinge, Geschöpfe oder Gewohnheiten, der Blick der Einfachheit, die Einkehr in den Grund und der Einklang mit Gott, der Grund des Menschen und sein Nichts mit all seinen Facetten, das Erkennen des Selbst, das Schweigen, damit Gott sprechen kann …

 

Foto: © wak

 

Vom Gewahr-Werden zum Gewahr-Sein: hier und jetzt

Tauler geht es in seinen Predigten nicht um intellektuelle Anregungen, sondern er gibt praktische Anweisungen. Er mahnt seine Zuhörerinnen und Zuhörer immer wieder, ihres Selbst gewahr zu werden, aufmerksam zu werden, sich zu beachten und zu beobachten, um in diesem Prozess ihres Selbst gewahr zu sein. In der beobachtenden Teilnahme des Menschen ist er fähig, die Kräfte seines Gemütes zu erkennen und zu aktivieren, den Grund unseres Geistes. Denn das Gemüt „steht bei weitem höher und innerlicher als die Kräfte; diese haben all ihr Vermögen von ihm und sind darin und von da heraus geflossen … es erkennt sich als Gott in Gott, und dennoch ist es geschaffen.“ Und wieder zitiert Tauler hier in der 53. Predigt den spätantiken Philosophen Proklus mit den Worten: „Wir suchen auf verborgene Weise das Eine, das weit über Vernunft und Erkenntnis steht.“.

Dazu gehört auch: das Un-Erklärbare, das Un-Beschreibliche, dem wir uns ständig gegenübersehen, hat sich nicht irgendwo, sondern im konkreten Leben zu bewähren, im Hier und Jetzt. Das gilt für Zen ebenso wie für Mystik. Im Buddhismus wie bei Tauler. Entscheidend ist dafür jedoch nicht eine spirituelle Innendekoration, ein Verhüllen der inneren Wände mit frommen Tüchern. Ganz existentiell ist die Erfahrung der Tiefe des eigenen Grundes im wirkenden Grund göttlichen Seins. Bei Tauler klingt das so: „Dann soll der Mensch die Eigenschaft der Einsamkeit Gottes in der stillen Leere betrachten … Denn dort ist alles still, geheimnisvoll und leer. Darin ist nichts als die lautere Gottheit. Dorthin kam nie etwas Fremdes, kein Geschöpf, kein Bild, keine Form.“

© Werner Anahata Krebber

Johannes Tauler und Zen: Zum Durchbruch gelangen

„Seine Sprache ist wie ein Bergquell, der aus harten Felsen hervorbricht, wunderbar geschwängert von unbekanntem Kräuterduft und geheimnisvollen Steinkräften.“

Heinrich Heine über Johannes Tauler

„Du musst auf dein Nichts gewiesen werden und sehen, was in dir verborgen und verdeckt liegt. Bleib bei dir selber!“ Oder: „Soll Gott sprechen, so musst du schweigen, soll Gott eingehen, so müssen alle Dinge ihm den Platz räumen.“ Oder: „Du sollst dieses tiefe Schweigen oft und oft in dir haben und es in dir zu einer Gewohnheit werden lassen, so dass es durch Gewohnheit ein fester Besitz in dir werde.“ Anweisungen eines buddhistischen Zen-Meisters? So könnte man auf den ersten Blick zunächst meinen. Doch es sind die Worte eines Menschen des Spätmittelalters, eines christlichen Mystikers. Es sind Sätze von Johannes Tauler, der wahrscheinlich kurz nach 1300 geboren wurde und 1361 starb. Das ihm lange Zeit zugeschriebene Adventslied „Es kommt ein Schiff geladen …“ kennen viele. Weniger bekannt jedoch ist die tiefe mystische Schau Taulers, die in weiten Teilen ganz erstaunliche Parallelen zum Zen aufweist. Sie ist nicht in philosophisch-theologischen Abhandlungen spekulativer Mystik überliefert, sondern in knapp über achtzig Predigten, die vermutlich kurze Zeit nach dem Tode Taulers niedergeschrieben wurden.

Was ist Zen? Und was ist Mystik?

Eine Bemerkung vorab: Wer in der umfangreichen Literatur zum Zen der Frage „Was ist Zen?“ nachgeht, stößt auf mehr oder weniger einleuchtende Be-und Umschreibungen, die häufig in negativer Darstellung angeben, was Zen nicht ist. Was aber ist Zen? Diese Frage muss beantwortet werden, bevor wir Parallelen bei Tauler suchen und finden können. „Zen lehrt, dass die Buddha-Natur, oder die Möglichkeit, Erleuchtung zu erreichen, in jedem innewohnt, aber aus Unwissenheit brachliegt …“ Erreicht wird die Erleuchtung »mit einem plötzlichen Durchbruch der Grenzen des gewöhnlichen, alltäglichen, logischen Denkens« beschreibt die „New Encyclopaedia Britannica“ den Sinn des Zen. Mit den Sätzen: „Im Mittelpunkt der Zen-Praxis steht die ‚sitzende Versenkung‘ (zazen). Sie soll zur Erleuchtung (satori) führen, der plötzlich eintretenden Erkenntnis der Einheit allen Seins, des Heiligsten und des Profansten“, versucht „Meyers Enzyklopädisches Lexikon“ dem Wesen des Zen näher zu kommen.

Und ein Zweites: Was ist Mystik? Das ist wohl am klarsten und eindeutigsten mit dem zu fassen, was der Mystiker erfährt: „Durch die mystischen Berührungen wird der Mensch aus seinem verteilten, gewöhnlich-tag-täglichen Bewusstsein herausgeholt. Er wird ‚eingekehrt‘ und spürt nun, dass in seinem ‚Herzen‘ etwas geschieht. Er wird weiter aus der ‚Eigenheit‘ heraus- und in seinen ‚Grund‘ hereingezogen. Dieser plötzliche Übergang vom Durchschnittsbewusstsein, wo er selbst Herr und Meister ist, zu dem Niveau, auf dem sich der ‚ganz Andere‘ fühlen lässt, ist ein erschütterndes Erlebnis,“ schreibt Paul Mommaers. Und genau darauf gilt es, sich stets neu einzulassen.

Weg und Wirkung Johannes Taulers

Wahrscheinlich kurz nach 1300, so wird berichtet, ist Tauler als Sohn einer Straßburger Patrizierfamilie geboren. Früh tritt er in den Predigerorden der Dominikaner ein, widmet sich der Seelsorge und predigt etwa ab 1330 vor allem in Gemeinschaften der Dominikaner und in Häusern der Beginen. Im Zuge eines politischen Machtkampfes zwischen Kaiser und Papst muss Tauler jedoch zusammen mit den anderen Dominikanern aus Straßburg emigrieren. Er geht zunächst nach Basel ins Exil. Verschiedene Reisen führen ihn später nach Köln und an den Niederrhein, bis er 1361 in seiner Heimatstadt stirbt. Die Wirkungsgeschichte Taulers ist ebenso wechselhaft wie eindrucksvoll. Seine Predigten beeinflussten den frühen Reformatoren Martin Luther ebenso wie Luthers Gegenspieler, den revolutionären Thomas Müntzer der Bauernkriege. Fast ins Schwärmen kommt im 19. Jahrhundert der Dichter Heinrich Heine in seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, wenn er schreibt: „Hier erwähnen wir daher namentlich des Johannes Tauler … Er gehörte zu jenen Mystikern, die ich als die platonische Partei des Mittelalters bezeichnet habe… Seine Sprache ist wie ein Bergquell, der aus harten Felsen hervorbricht, wunderbar geschwängert von unbekanntem Kräuterduft und geheimnisvollen Steinkräften.“ Die geistesgeschichtliche Traditionslinie, auf die Tauler sich bezieht, beginnt mit dem spätantiken Philosophen Proklos (411 – 485 n. Chr.), also etwa um die Zeit, als Bodhidarma, der vor allem in China lebte und 528 gestorben ist, den Zen-Buddhismus begründete. Tauler zitiert Proklos als „heidnischen Lehrmeister“ mit den Worten „willst du aber noch höher kommen, so lass das vernünftige Hinschauen und Anstarren, denn die Vernunft liegt unter dir, und werde eins mit dem Einen. Und er nennt das Eine eine göttliche Finsternis, still, schweigend, schlafend, übersinnlich.“ Auf Proklos stützt sich auch Dionysius Areopagita (um 550 n. Chr.). In seiner Abhandlung über die „Unfassbarkeit Gottes“ schreibt er unter anderem: „Er allein ist der Urgrund, der allumfassende Ursprung alles Seins und Nichtseins, darin Vollkommenheit und Überschwang, die Fülle von Allem und der Verzicht auf alles und die Jenseitigkeit selbst über alles umschlossen liegt. Kein Sein und kein Nichtsein kann Ihn treffen und Ja und Nein erreichen Ihn nicht.“ Auf diese Traditionen greift Tauler zurück, die noch anzureichern sind mit Platon (428/27 – 348/47) und Plotin (um 205 – 270) und die ergänzt werden müssen mit den Kirchenvätern Augustinus (354 – 430) und Thomas von Aquin (1225/6 – 1274) sowie Dominikus (um 1170 – 1221), den Gründer des Dominikanerordens. Etwa in dieser Zeit waren übrigens innerhalb des Buddhismus in Japan die Rinzai-Schule (Eisai 1141 – 1215) und die Soto-Schule (Dogen 1200 – 1253) entstanden. Vor allem und in besonderer Weise ist jedoch der Mystiker Meister Eckhart (um 1260 – 1327) zu nennen, dessen direkter Schüler Johannes Tauler gewesen ist.

Aufstieg aus dem Grund

Für Johannes Tauler ist der Mensch immer im Aufstieg, immer in Bewegung. Denn nur so kann er zu dem Durchbruch gelangen, der ihn auf seinem Weg weiterbringt. Nicht eindimensional, sondern in drei Schichten bewegt sich nach Taulers Überzeugung der Mensch dabei von der Selbst- zur Gotteserkenntnis. Eine Passage aus der Predigt „Von der Geburt Gottes im Menschen“ verdeutlicht dies: „Die Seele hat drei edle Kräfte, in denen sie ein reines Abbild der heiligen Dreifaltigkeit ist: Gedächtnis, Verstand und freier Wille. Und mittels dieser Kräfte erfasst sie Gott und ist für ihn empfänglich, so dass sie alles dessen empfänglich werden kann, was Gott ist und hat und geben kann, und vermittels ihrer schaut sie in die Ewigkeit. Denn die Seele ist zwischen Zeit und Ewigkeit geschaffen: Mit ihrem obersten Teile gehört sie in die Ewigkeit, und mit ihrem untersten Teile, mit ihren sinnlichen, tierischen Kräften, gehört sie in die Zeit. Nun ist die Seele sowohl mit ihren obersten wie mit ihren untersten Kräften in die Zeit und die zeitlichen Dinge ausgeströmt, infolge der nahen Verwandtschaft, die die obersten Kräfte zu den untersten haben; daher wird ihr auch dieser Lauf sehr leicht, und sie ist sogar bereit, ganz in die sinnlichen Dinge auszulaufen, und geht so der Ewigkeit verlustig. Wahrhaftig, es muss notwendig ein Rücklauf geschehen, soll diese Geburt geboren werden, es muss eine kräftige Einkehr geschehen, ein Einholen, ein inwendiges Sammeln aller Kräfte, der untersten und der obersten, und so muss eine Vereinigung von aller Zerstreuung stattfinden …“

Louise Gnädinger beschreibt in ihrer Biographie des spätmittelalterlichen Mystikers Tauler, worum es ihm vor allem geht: „Im eigenen, als tief innerlich liegend empfundenen Abgrund stößt der Mensch, hat er sich den Weg dorthin einmal frei gemacht, auf den göttlichen Abgrund. Beide Abgründe, der menschliche und der göttliche, rufen einander zu und herbei, und in dem dynamisch wogenden Hin-und-Her-Rufen führt und leitet der göttliche Abgrund den menschlichen in sich hinein in den Umschwung der Gottheit“. Denn Tauler bleibt in seinen Predigten nicht dabei stehen, die Suche des Menschen nach Reichtum, Ordnung, Gestalt, Wahrheit, Wesen etc. in seiner Ganzheit zu beschreiben. Er geht weiter: „Er tastet nach der letzten Wesenstiefe im Menschen«, schreibt Josef Zapf. „Er ringt um den Überschritt in den göttlichen Grund. Dort vollzieht sich die Geburt Gottes im Menschen.“ Ganz entscheidend für diese Gottesgeburt im Menschen ist Taulers Überzeugung, dass der Mensch ein Nichts ist. Allerdings nicht in dem gemeinhin negativ verstandenen Sinn, sondern so begriffen, dass er dem eigenen Nichts auf den Grund geht. Dass er es sehen kann als Nichtigkeit und Sinnlosigkeit der Welt. Tauler meint, dass der Mensch „von Grund aus sein natürliches und sein gebrechliches Nichts erkennen“ soll. Der Mensch „muss alles lassen, dieses Lassens selbst noch ledig werden es lassen, es für nichts halten und in sein lauteres Nichts sinken.“ Tauler weiß: „Willst du in Gottes Innerstes aufgenommen, in ihn gewandelt werden, so musst du dich deiner selbst entäußern, aller Eigenheit, deiner Neigungen, aller Tätigkeit, aller Anmaßung, aller Weise, in der du dich selber besessen hast; darunter geht es nicht. Zwei Wesen und zwei Formen können nicht zugleich nebeneinander bestehen. Soll das Warme hinein, so muss das Kalte notwendigerweise hinaus. Soll Gott eintreten? Das Geschaffene und alles Eigene muss dafür den Platz räumen. Soll Gott wahrhaftig in dir wirken, so musst du in einem Zustand bloßen Erduldens sein; all deine Kräfte müssen so ganz ihres Wirkens und ihrer Selbstbehauptung entäußert sein, in einem reinen Verleugnen ihres Selbst sich halten, beraubt ihrer eigenen Kraft, in reinem und bloßem Nichts verharren. Je tiefer dieses Zunichtewerden ist, um so wesentlicher und wahrer ist die Vereinigung.“

Sich lösen von äußeren Bildern

Zu dieser Vereinigung von Gott und Mensch, die alle Trennungen aufhebt, gehört für den Seelsorger und Prediger, dass sich der Mensch von allen Bildern löst. „Man findet gar manchen, der in der bildhaften Weise sehr bewandert ist und große Freude an solcher Übung besitzt, aber keinerlei Zugang zur Innerlichkeit seiner Seele hat … Das kommt daher, dass sie zu sehr bei den sinnlichen Bildern verweilen und dabei verharren und nicht vorwärtskommen und nicht in den Grund durchbrechen, wo die lebendige Wahrheit leuchtet: denn man kann nicht zwei Herren dienen: den Sinnen und dem Geist.“ Seine Zuhörer fordert er auf, dass sie „die Bilder bald fahren lassen und mit flammender Liebe durch den mittleren in den allerinnersten Menschen hindurchdringen.“ Und wie Proklus meint Tauler: „Solange der Mensch mit den Bildern, die unter uns sind, beschäftigt ist und damit umgeht, wird er niemals in den Grund gelangen.“ Für Tauler gehört existentiell zum Gelingen des Durchbruchs die Abgeschiedenheit vom Äußeren, das Aufgeben der Anhänglichkeit an Dinge, Geschöpfe oder Gewohnheiten, der Blick der Einfachheit, die Einkehr in den Grund und der Einklang mit Gott, der Grund des Menschen und sein Nichts mit all seinen Facetten, das Erkennen des Selbst, das Schweigen, damit Gott sprechen kann …

Vom Gewahr-Werden zum Gewahr-Sein: hier und jetzt

Tauler geht es in seinen Predigten nicht um intellektuelle Anregungen, sondern er gibt praktische Anweisungen. Er mahnt seine Zuhörerinnen und Zuhörer immer wieder, ihres Selbst gewahr zu werden, aufmerksam zu werden, sich zu beachten und zu beobachten, um in diesem Prozess ihres Selbst gewahr zu sein. In der beobachtenden Teilnahme des Menschen ist er fähig, die Kräfte seines Gemütes zu erkennen und zu aktivieren, den Grund unseres Geistes. Denn das Gemüt „steht bei weitem höher und innerlicher als die Kräfte; diese haben all ihr Vermögen von ihm und sind darin und von da heraus geflossen … es erkennt sich als Gott in Gott, und dennoch ist es geschaffen.“ Und wieder zitiert Tauler hier in der 53. Predigt den spätantiken Philosophen Proklus mit den Worten: „Wir suchen auf verborgene Weise das Eine, das weit über Vernunft und Erkenntnis steht.“.

Dazu gehört auch: das Un-Erklärbare, das Un-Beschreibliche, dem wir uns ständig gegenübersehen, hat sich nicht irgendwo, sondern im konkreten Leben zu bewähren, im Hier und Jetzt. Das gilt für Zen ebenso wie für Mystik. Im Buddhismus wie bei Tauler. Entscheidend ist dafür jedoch nicht eine spirituelle Innendekoration, ein Verhüllen der inneren Wände mit frommen Tüchern. Ganz existentiell ist die Erfahrung der Tiefe des eigenen Grundes im wirkenden Grund göttlichen Seins. Bei Tauler klingt das so: „Dann soll der Mensch die Eigenschaft der Einsamkeit Gottes in der stillen Leere betrachten … Denn dort ist alles still, geheimnisvoll und leer. Darin ist nichts als die lautere Gottheit. Dorthin kam nie etwas Fremdes, kein Geschöpf, kein Bild, keine Form.“

© Werner Anahata Krebber

 

Mehr Texte zu Mystik und Spiritualität hier:

https://mystikaktuell.wordpress.com/auf-einen-blick-spirituelle-anregungen-von-werner-a-krebber/

 

Der Mystiker Johannes Tauler und Zen

„Seine Sprache ist wie ein Bergquell, der aus harten Felsen hervorbricht, wunderbar geschwängert von unbekanntem Kräuterduft und geheimnisvollen Steinkräften.“ Heinrich Heine über Johannes Tauler

 

“Du musst auf dein Nichts gewiesen werden und sehen, was in dir verborgen und verdeckt liegt. Bleib bei dir selber!“ Oder: „Soll Gott sprechen, so musst du schweigen, soll Gott eingehen, so müssen alle Dinge ihm den Platz räumen.“ Oder: „Du sollst dieses tiefe Schweigen oft und oft in dir haben und es in dir zu einer Gewohnheit werden lassen, so dass es durch Gewohnheit ein fester Besitz in dir werde.“ Anweisungen eines buddhistischen Zen-Meisters? So könnte man auf den ersten Blick zunächst meinen. Doch es sind die Worte eines Menschen des Spätmittelalters, eines christlichen Mystikers. Es sind Sätze von Johannes Tauler, der wahrscheinlich kurz nach 1300 geboren wurde und 1361 starb. Das ihm lange Zeit zugeschriebene Adventslied „Es kommt ein Schiff geladen …“ kennen viele. Weniger bekannt jedoch ist die tiefe mystische Schau Taulers, die in weiten Teilen ganz erstaunliche Parallelen zum Zen aufweist. Sie ist nicht in philosophisch-theologischen Abhandlungen spekulativer Mystik überliefert, sondern in knapp über achtzig Predigten, die vermutlich kurze Zeit nach dem Tode Taulers niedergeschrieben wurden.

Was ist Zen? Und was ist Mystik?

Eine Bemerkung vorab: Wer in der umfangreichen Literatur zum Zen der Frage „Was ist Zen?“ nachgeht, stößt auf mehr oder weniger einleuchtende Be-und Umschreibungen, die häufig in negativer Darstellung angeben, was Zen nicht ist. Was aber ist Zen? Diese Frage muss beantwortet werden, bevor wir Parallelen bei Tauler suchen und finden können. „Zen lehrt, dass die Buddha-Natur, oder die Möglichkeit, Erleuchtung zu erreichen, in jedem innewohnt, aber aus Unwissenheit brachliegt …“ Erreicht wird die Erleuchtung »mit einem plötzlichen Durchbruch der Grenzen des gewöhnlichen, alltäglichen, logischen Denkens« beschreibt die „New Encyclopaedia Britannica“ den Sinn des Zen. Mit den Sätzen: „Im Mittelpunkt der Zen-Praxis steht die ‚sitzende Versenkung‘ (zazen). Sie soll zur Erleuchtung (satori) führen, der plötzlich eintretenden Erkenntnis der Einheit allen Seins, des Heiligsten und des Profansten“, versucht „Meyers Enzyklopädisches Lexikon“ dem Wesen des Zen näher zu kommen.

Und ein Zweites: Was ist Mystik? Das ist wohl am klarsten und eindeutigsten mit dem zu fassen, was der Mystiker erfährt: „Durch die mystischen Berührungen wird der Mensch aus seinem verteilten, gewöhnlich-tag-täglichen Bewusstsein herausgeholt. Er wird ‚eingekehrt‘ und spürt nun, dass in seinem ‚Herzen‘ etwas geschieht. Er wird weiter aus der ‚Eigenheit‘ heraus- und in seinen ‚Grund‘ hereingezogen. Dieser plötzliche Übergang vom Durchschnittsbewusstsein, wo er selbst Herr und Meister ist, zu dem Niveau, auf dem sich der ‚ganz Andere‘ fühlen lässt, ist ein erschütterndes Erlebnis,“ schreibt Paul Mommaers. Und genau darauf gilt es, sich stets neu einzulassen.

Weg und Wirkung Johannes Taulers

Wahrscheinlich kurz nach 1300, so wird berichtet, ist Tauler als Sohn einer Straßburger Patrizierfamilie geboren. Früh tritt er in den Predigerorden der Dominikaner ein, widmet sich der Seelsorge und predigt etwa ab 1330 vor allem in Gemeinschaften der Dominikaner und in Häusern der Beginen. Im Zuge eines politischen Machtkampfes zwischen Kaiser und Papst muss Tauler jedoch zusammen mit den anderen Dominikanern aus Straßburg emigrieren. Er geht zunächst nach Basel ins Exil. Verschiedene Reisen führen ihn später nach Köln und an den Niederrhein, bis er 1361 in seiner Heimatstadt stirbt. Die Wirkungsgeschichte Taulers ist ebenso wechselhaft wie eindrucksvoll. Seine Predigten beeinflussten den frühen Reformatoren Martin Luther ebenso wie Luthers Gegenspieler, den revolutionären Thomas Münzer der Bauernkriege. Fast ins Schwärmen kommt im 19. Jahrhundert der Dichter Heinrich Heine in seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“, wenn er schreibt: „Hier erwähnen wir daher namentlich des Johannes Tauler … Er gehörte zu jenen Mystikern, die ich als die platonische Partei des Mittelalters bezeichnet habe… Seine Sprache ist wie ein Bergquell, der aus harten Felsen hervorbricht, wunderbar geschwängert von unbekanntem Kräuterduft und geheimnisvollen Steinkräften.“ Die geistesgeschichtliche Traditionslinie, auf die Tauler sich bezieht, beginnt mit dem spätantiken Philosophen Proklos (411 – 485 n. Chr.), also etwa um die Zeit, als Bodhidarma, der vor allem in China lebte und 528 gestorben ist, den Zen-Buddhismus begründete. Tauler zitiert Proklos als „heidnischen Lehrmeister“ mit den Worten „willst du aber noch höher kommen, so lass das vernünftige Hinschauen und Anstarren, denn die Vernunft liegt unter dir, und werde eins mit dem Einen. Und er nennt das Eine eine göttliche Finsternis, still, schweigend, schlafend, übersinnlich.“ Auf Proklos stützt sich auch Dionysius Areopagita (um 550 n. Chr.). In seiner Abhandlung über die „Unfassbarkeit Gottes“ schreibt er unter anderem: „Er allein ist der Urgrund, der allumfassende Ursprung alles Seins und Nichtseins, darin Vollkommenheit und Überschwang, die Fülle von Allem und der Verzicht auf alles und die Jenseitigkeit selbst über alles umschlossen liegt. Kein Sein und kein Nichtsein kann Ihn treffen und Ja und Nein erreichen Ihn nicht.“ Auf diese Traditionen greift Tauler zurück, die noch anzureichern sind mit Platon (428/27 – 348/47) und Plotin (um 205 – 270) und die ergänzt werden müssen mit den Kirchenvätern Augustinus (354 – 430) und Thomas von Aquin (1225/6 – 1274) sowie Dominikus (um 1170 – 1221), den Gründer des Dominikanerordens. Etwa in dieser Zeit waren übrigens innerhalb des Buddhismus in Japan die Rinzai-Schule (Eisai 1141 – 1215) und die Soto-Schule (Dogen 1200 – 1253) entstanden. Vor allem und in besonderer Weise ist jedoch der Mystiker Meister Eckhart (um 1260 – 1327) zu nennen, dessen direkter Schüler Johannes Tauler gewesen ist.

Aufstieg aus dem Grund

Für Johannes Tauler ist der Mensch immer im Aufstieg, immer in Bewegung. Denn nur so kann er zu dem Durchbruch gelangen, der ihn auf seinem Weg weiterbringt. Nicht eindimensional, sondern in drei Schichten bewegt sich nach Taulers Überzeugung der Mensch dabei von der Selbst- zur Gotteserkenntnis. Eine Passage aus der Predigt „Von der Geburt Gottes im Menschen“ verdeutlicht dies: „Die Seele hat drei edle Kräfte, in denen sie ein reines Abbild der heiligen Dreifaltigkeit ist: Gedächtnis, Verstand und freier Wille. Und mittels dieser Kräfte erfasst sie Gott und ist für ihn empfänglich, so dass sie alles dessen empfänglich werden kann, was Gott ist und hat und geben kann, und vermittels ihrer schaut sie in die Ewigkeit. Denn die Seele ist zwischen Zeit und Ewigkeit geschaffen: Mit ihrem obersten Teile gehört sie in die Ewigkeit, und mit ihrem untersten Teile, mit ihren sinnlichen, tierischen Kräften, gehört sie in die Zeit. Nun ist die Seele sowohl mit ihren obersten wie mit ihren untersten Kräften in die Zeit und die zeitlichen Dinge ausgeströmt, infolge der nahen Verwandtschaft, die die obersten Kräfte zu den untersten haben; daher wird ihr auch dieser Lauf sehr leicht, und sie ist sogar bereit, ganz in die sinnlichen Dinge auszulaufen, und geht so der Ewigkeit verlustig. Wahrhaftig, es muss notwendig ein Rücklauf geschehen, soll diese Geburt geboren werden, es muss eine kräftige Einkehr geschehen, ein Einholen, ein inwendiges Sammeln aller Kräfte, der untersten und der obersten, und so muss eine Vereinigung von aller Zerstreuung stattfinden …“

Louise Gnädinger beschreibt in ihrer Biographie des spätmittelalterlichen Mystikers Tauler, worum es ihm vor allem geht: „Im eigenen, als tief innerlich liegend empfundenen Abgrund stößt der Mensch, hat er sich den Weg dorthin einmal frei gemacht, auf den göttlichen Abgrund. Beide Abgründe, der menschliche und der göttliche, rufen einander zu und herbei, und in dem dynamisch wogenden Hin-und-Her-Rufen führt und leitet der göttliche Abgrund den menschlichen in sich hinein in den Umschwung der Gottheit“. Denn Tauler bleibt in seinen Predigten nicht dabei stehen, die Suche des Menschen nach Reichtum, Ordnung, Gestalt, Wahrheit, Wesen etc. in seiner Ganzheit zu beschreiben. Er geht weiter: „Er tastet nach der letzten Wesenstiefe im Menschen«, schreibt Josef Zapf. „Er ringt um den Überschritt in den göttlichen Grund. Dort vollzieht sich die Geburt Gottes im Menschen.“ Ganz entscheidend für diese Gottesgeburt im Menschen ist Taulers Überzeugung, dass der Mensch ein Nichts ist. Allerdings nicht in dem gemeinhin negativ verstandenen Sinn, sondern so begriffen, dass er dem eigenen Nichts auf den Grund geht. Dass er es sehen kann als Nichtigkeit und Sinnlosigkeit der Welt. Tauler meint, dass der Mensch „von Grund aus sein natürliches und sein gebrechliches Nichts erkennen“ soll. Der Mensch „muss alles lassen, dieses Lassens selbst noch ledig werden es lassen, es für nichts halten und in sein lauteres Nichts sinken.“ Tauler weiß: „Willst du in Gottes Innerstes aufgenommen, in ihn gewandelt werden, so musst du dich deiner selbst entäußern, aller Eigenheit, deiner Neigungen, aller Tätigkeit, aller Anmaßung, aller Weise, in der du dich selber besessen hast; darunter geht es nicht. Zwei Wesen und zwei Formen können nicht zugleich nebeneinander bestehen. Soll das Warme hinein, so muss das Kalte notwendigerweise hinaus. Soll Gott eintreten? Das Geschaffene und alles Eigene muss dafür den Platz räumen. Soll Gott wahrhaftig in dir wirken, so musst du in einem Zustand bloßen Erduldens sein; all deine Kräfte müssen so ganz ihres Wirkens und ihrer Selbstbehauptung entäußert sein, in einem reinen Verleugnen ihres Selbst sich halten, beraubt ihrer eigenen Kraft, in reinem und bloßem Nichts verharren. Je tiefer dieses Zunichtewerden ist, um so wesentlicher und wahrer ist die Vereinigung.“

Sich lösen von äußeren Bildern

Zu dieser Vereinigung von Gott und Mensch, die alle Trennungen aufhebt, gehört für den Seelsorger und Prediger, dass sich der Mensch von allen Bildern löst. „Man findet gar manchen, der in der bildhaften Weise sehr bewandert ist und große Freude an solcher Übung besitzt, aber keinerlei Zugang zur Innerlichkeit seiner Seele hat … Das kommt daher, dass sie zu sehr bei den sinnlichen Bildern verweilen und dabei verharren und nicht vorwärtskommen und nicht in den Grund durchbrechen, wo die lebendige Wahrheit leuchtet: denn man kann nicht zwei Herren dienen: den Sinnen und dem Geist.“ Seine Zuhörer fordert er auf, dass sie „die Bilder bald fahren lassen und mit flammender Liebe durch den mittleren in den allerinnersten Menschen hindurchdringen.“ Und wie Proklus meint Tauler: „Solange der Mensch mit den Bildern, die unter uns sind, beschäftigt ist und damit umgeht, wird er niemals in den Grund gelangen.“ Für Tauler gehört existentiell zum Gelingen des Durchbruchs die Abgeschiedenheit vom Äußeren, das Aufgeben der Anhänglichkeit an Dinge, Geschöpfe oder Gewohnheiten, der Blick der Einfachheit, die Einkehr in den Grund und der Einklang mit Gott, der Grund des Menschen und sein Nichts mit all seinen Facetten, das Erkennen des Selbst, das Schweigen, damit Gott sprechen kann …

Vom Gewahr-Werden zum Gewahr-Sein: hier und jetzt

Tauler geht es in seinen Predigten nicht um intellektuelle Anregungen, sondern er gibt praktische Anweisungen. Er mahnt seine Zuhörerinnen und Zuhörer immer wieder, ihres Selbst gewahr zu werden, aufmerksam zu werden, sich zu beachten und zu beobachten, um in diesem Prozess ihres Selbst gewahr zu sein. In der beobachtenden Teilnahme des Menschen ist er fähig, die Kräfte seines Gemütes zu erkennen und zu aktivieren, den Grund unseres Geistes. Denn das Gemüt „steht bei weitem höher und innerlicher als die Kräfte; diese haben all ihr Vermögen von ihm und sind darin und von da heraus geflossen … es erkennt sich als Gott in Gott, und dennoch ist es geschaffen.“ Und wieder zitiert Tauler hier in der 53. Predigt den spätantiken Philosophen Proklus mit den Worten: „Wir suchen auf verborgene Weise das Eine, das weit über Vernunft und Erkenntnis steht.“.

Dazu gehört auch: das Un-Erklärbare, das Un-Beschreibliche, dem wir uns ständig gegenübersehen, hat sich nicht irgendwo, sondern im konkreten Leben zu bewähren, im Hier und Jetzt. Das gilt für Zen ebenso wie für Mystik. Im Buddhismus wie bei Tauler. Entscheidend ist dafür jedoch nicht eine spirituelle Innendekoration, ein Verhüllen der inneren Wände mit frommen Tüchern. Ganz existentiell ist die Erfahrung der Tiefe des eigenen Grundes im wirkenden Grund göttlichen Seins. Bei Tauler klingt das so: „Dann soll der Mensch die Eigenschaft der Einsamkeit Gottes in der stillen Leere betrachten … Denn dort ist alles still, geheimnisvoll und leer. Darin ist nichts als die lautere Gottheit. Dorthin kam nie etwas Fremdes, kein Geschöpf, kein Bild, keine Form.“

Werner Anahata Krebber

Meister Eckhart und Zen

eckhartundzen

Noch zu Lebzeiten kursierte folgender Spottvers über Meister Eckhart:

„Der weise Mystiker Eckehart / will uns vom Nichtse sagen. Doch wer ihn nicht versteht, / Der mag es Gotte klagen …“

Vom „Nichts“ will auch der Zen-Buddhismus „sagen“. Bereits Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts lenkte D.T. Suzuki die Aufmerksamkeit auf die Nähe der Gedankenwelt Meister Eckharts zu der des Mahayana-Buddhismus, besonders des Zen-Buddhismus. So begann der Dialog zwischen westlichen und östlichen Wegen – und er wird heute von vielen Menschen gepflegt und weitergeführt. „Der Weg nach innen ist der Weg nach außen“ – beginnen muss dieser „weglose Weg“ jeweils mit der Selbst-Wahrnehmung. Eckhart würde sagen: „nim din selbes war“

„Zen zu praktizieren bedeutet, das Licht in uns zum Leuchten zu bringen … Wir suchen im Zen nicht die Wahrheit, die uns irgendjemand irgendwo gegeben hat – wir begreifen und verstehen stattdessen: dass die Wahrheit, nach der wir suchen, schon längst in uns brennt wie ein Licht und nur bewusst ‚wahr‘-genommen zu werden braucht. Wir müssen sie nur entdecken.“… Der Berliner Politikwissenschaftler und Yoga-Lehrer Hans-Peter Hempel zeigt auf, was Zen für die Menschen im 21. Jahrhundert sein kann. Diese Wahrheit hat Eckehart von Hochheim, genannt Meister Eckhart, Jahrhunderte früher aus der Tradition der Mystik inhaltlich sehr ähnlich formuliert. „In uns existiert etwas, das eins ist mit Gott und nicht vereint, deshalb soll der Mensch sich nicht genügen lassen an einen gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben. Niemals steht ein Unfriede in dir auf, der nicht aus dem Ich kommt, ob man es nun merkt oder nicht. Darum fang zuerst bei dir selbst an und lass dich.“

Seit jeher üben die Worte dieses mittelalterlichen Mystikers eine enorme Faszination auf all jene aus, die auf der Suche nach ihrem individuellen „weglosen Weg“ sind, wie Eckhart es formuliert.

Wer war Meister Eckhart?
Obwohl es eine umfangreiche Forschung zu Meister Eckhart gibt, sind viele Details noch unbekannt. Als sicher gilt wohl dies: Um 1260 geboren, ist Eckhart schon jung mit den Erfurter Dominikanern in Kontakt gekommen. Er studiert in Paris und Köln und wird Prior des Erfurter Klosters. In Köln wie in Paris predigt er immer wieder vor Dominikanerinnen und Beginen. In Paris hat er wohl den „Spiegel der einfachen Seelen“, ein Buch von der Begine Marguerite Porete, zur Kenntnis genommen. Dieses Buch sowie dessen Autorin wurden nach kirchlicher Verurteilung verbrannt.

Von 1303 bis 1311 leitet Meister Eckhart die damals neu geschaffene Dominikanerordensprovinz Saxonia. Bis 1322 wirkt er als Vikar des Ordensgenerals in Straßburg. Ab 1323 lehrt Eckhart am Studium Generale der Dominikaner in Köln, wo er unter Druck des Kölner Erzbischofs Heinrich von Virneburg gerät. Der lässt die Schriften Eckharts auf ihre „Rechtgläubigkeit“ untersuchen. Am 27. März 1329 werden schließlich durch Papst Johannes XXII. 17 Passagen aus den Werken Eckharts als irrig und häretisch verurteilt. Eckhart selbst erlebt dies nicht mehr, er ist im April 1328 verstorben, vermutlich auf dem Weg nach Avignon, wo er sich noch vor dem Papst rechtfertigen wollte. Überliefert sind uns viele seiner Traktate und Predigten, weil Ordensfrauen und Beginen sie mitschrieben und so für die Nachwelt erhielten. Als sicher gilt inzwischen, dass Eckhart viele dieser Texte selbst autorisiert hat. Über lange Zeit war sein Denken durch die Verurteilung des Papstes, die bislang nicht revidiert wurde, einem Mit-Denkverbot unterworfen. Wenn Zitate aus seinen Schriften genommen wurden, ließen die Theologen den Namen Eckharts weg, damit sie nicht ebenfalls in den Sog seiner Verurteilung gerieten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Renaissance der Gedanken Eckharts, belegt beispielsweise durch die Bearbeitung seiner Mystischen Schriften durch den Anarchisten Gustav Landauer und Martin Buber sowie Erich Fromms Buch „Haben oder Sein“.

Wie seine Schüler Johannes Tauler und Heinrich Seuse steht auch Eckhart in der Traditionslinie von Platon (ca. 427-347 v.u.Z.), vom spätantiken Philosophen Proklos (311-485), von Plotin (um 205-270) und Dionysius Areopagita (um 550). Aber auch in der von Augustinus (354-430), Dominikus (ca. 1170-1221) und Thomas von Aquin (ca. 1225- 1274). Zeitlich fast parallel dazu waren innerhalb des Buddhismus in Japan die Rinzai-Schule (Eisai /1141-1215) – und die für die Parallelen zu Eckhart bedeutendere Soto-Schule (Dogen / 1200- 1253) entstanden.

Leerheit, Soheit, absolutes Jetzt
Was sind die Themen, um die es Eckhart in seinen Predigten und Traktaten immer wieder geht? Von der „Leerheit“ spricht der Mystiker, von zeitloser Zeit, von der „Ist-heit“, der „So-heit“ und „Wesenheit“, vom „absoluten Jetzt“, vom „Nun“ … Von allen verstanden zu werden, gelingt eher seinem Schüler, dem „Lebemeister“ Johannes Tauler, als dem „Lesemeister“ Eckhart selbst. Dem Vorwurf, schwer verständlich zu sein, begegnete er mit Sätzen wie: „Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen.“ Es geht Eckhart nicht nur darum, die Ratio, den Verstand des Menschen zu erreichen. Er will ihm vielmehr den Weg ebnen, sich in seiner Ganzheit und seiner Einheit mit Gott zu erkennen und anzunehmen.

Im Denken seiner Zeit verhaftet, benutzt Eckhart Begriffe wie „Gott“ ganz selbstverständlich. Doch er weitet sie gleichzeitig aus und belässt sie nicht in ihrer von der römischen Kirche dogmatisch geprägten Engführung. Denn wie Dionysius Areopagitas und andere weiß Eckhart um die Bedeutung des Unbeschreiblichen der eigenen Erfahrung. Gegen die festgelegten Ordnungen von Dogmen und Institutionen setzte er die lebendige Erfahrung – nur letztere führt zum Entscheidenden: Alle von Menschen festgeschriebenen Unterscheidungen werden überwunden, und es tut sich die intensive Erfahrung der Einheit des Ichs mit allem Sein auf.

Der Verstand, der nicht versteht
Im Zen geht es ebenfalls darum, sich selbst auf den „weglosen Weg“ zu machen, sich einzulassen auf die Ur-Kraft, die aus der eigenen Erfahrung erwächst: „Sich selbst erfahren heißt, sich selbst vergessen, sich selbst vergessen heißt, sich selbst wahr- zunehmen in allen Dingen. Dieses Erkennen ist das Abfallen von Geist und Körper“, heißt es bei Dogen, dem Zen-Patriarchen. Und Hui-Neng formuliert: „Denke nicht an Gutes, denke nicht an Böses, sondern sieh, was in diesem Augenblick dein eigenes, ursprüngliches Aussehen ist, das du schon hattest vor deiner Geburt“. Negative Aussagen über die Wahrheit sind für diese Tradition typisch. Wenn Ashvagosha von der So-, Ist- oder Wesenheit spricht, ist der Weg nicht weit zu der Tradition der negativen Theologie, die Eckhart teils übernommen hat: „ … das über dem geschaffenen Sein der Seele ist und das kein Geschaffensein rührt, das ja nichts ist“ – über „das“, das zur transzendenten Welt führt, lässt sich kaum anders reden. Wie heißt es doch in dem Zen-Paradoxon: „Der Verstand, der nicht versteht, das ist Buddha. Es gibt keinen anderen“.

„Wir schauen es, doch sehen es nicht. Es ist unsichtbar. Wir hören es, doch horchen es nicht. Es ist unerhochbar. Wir fassen es, doch erfassen es nicht. Es ist unerfassbar“, hatte Lao-Tse im 14. Spruch des Tao Te King geschrieben. Zen, die Erfahrung des Selbst in seiner Unmittelbarkeit, ist ebenfalls unbeschränkt, offen und weit. Zen überschreitet jene letzten Grenzen, die gesetzt werden, hebt damit die falschen Dualismen zwischen Innen und Außen auf und entzieht sich gleichzeitig allen Versuchen, es in abstrakte Begriffe, in erläuternde Formulierungen oder Redewendungen zu bringen, die über das Un-Sagbare der Wahr-Nehmung einen Deckel des scheinbaren Verstehens stülpen.

Zen, die Brücke
„Die Menschen der Zukunft werden ‚Erwachte‘ sein. Dann haben sich Religionen zu Wegen in die Erfahrung der Wirklichkeit verwandelt. Zen kann dabei eine wichtige Rolle spielen, weil es von seinem Wesen her transkonfessionell ist“, sagt der Benediktiner und Zen-Meister Willigis Jäger. Und er begegnet hier Taisen Deshimaru, dessen Fazit lautet: „Durch die Stille, das Ende des Denkens, aller Worte, aller Spekulation, durch das Zur-Ruhe-Kommen des Geistes wird Gott im Menschen immanent. Er kehrt zurück zu Gott, der Urkraft, es vereinigt sich, was vormals schon eins war.“

„Nim din selbes war“ – das Wort Meister Eckharts lädt ein, sich auf jenen Weg nach innen zu machen, der zum Weg nach außen wird. Eckhart hat – wie auch andere Mystiker – keine konkrete Methode, keine praktischen Vorschläge für die Realisierungen seiner Gedanken gepredigt. Hier kann Zen eine Brücke schlagen. Ganz still – hier und jetzt. Der Politologe und Yoga-Lehrer Hans-Peter Hempel ist davon überzeugt: „Wenn wir alle nur im Verlaufe des Tages ein paar Minuten im stillen Sitzen ‚da‘-sein können, dann reicht das schon aus, um uns unserer Buddha-Natur, unseres ureigenen Potenzials bewusst zu werden.“

Werner Anahata Krebber

Die „Mystischen Schriften“ von Meister Eckhart, die Gustav Landauer herausgegeben hat, gibt es hier online:

http://www.archive.org/stream/mystischeschrift00eckhuoft#page/n5/mode/2up

Siehe auch hier:

https://mystikaktuell.wordpress.com/2010/10/31/zwei-mystische-schriften-meister-eckharts/

Werde eins mit dem Einen

Solange der Mensch mit den Bildern, die unter uns sind, beschäftigt ist und damit umgeht, wird er, so glaube ich, niemals in diesen Grund gelangen. Es gilt uns als Aberglaube, anzunehmen, dass dieser Grund in uns sei; wir können nicht glauben, dass dergleichen sei und in uns sei. Daher, willst du erfahren, dass er besteht, so lass alle Mannigfaltigkeit fahren, und betrachte nur diesen einen Gegenstand mit den Augen deines Verstandes; willst du aber höher steigen, so lass das vernünftige Hinsehen und Ansehen, denn die Vernunft liegt unter dir, und werde eins mit dem Einen. Und er nennt das Eine eine göttliche Finsternis, still, schweigend, schlafend, übersinnlich.

Proklos (412 – 485)

Meister Eckhart und Zen

Noch zu Lebzeiten kursierte folgender Spottvers über Meister Eckhart:

„Der weise Mystiker Eckehart / will uns vom Nichtse sagen. Doch wer ihn nicht versteht, / Der mag es Gotte klagen …“

Vom „Nichts“ will auch der Zen-Buddhismus „sagen“. Bereits Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts lenkte D.T. Suzuki die Aufmerksamkeit auf die Nähe der Gedankenwelt Meister Eckharts zu der des Mahayana-Buddhismus, besonders des Zen-Buddhismus. So begann der Dialog zwischen westlichen und östlichen Wegen – und er wird heute von vielen Menschen gepflegt und weitergeführt. „Der Weg nach innen ist der Weg nach außen“ – beginnen muss dieser „weglose Weg“ jeweils mit der Selbst-Wahrnehmung. Eckhart würde sagen: „nim din selbes war“

„Zen zu praktizieren bedeutet, das Licht in uns zum Leuchten zu bringen … Wir suchen im Zen nicht die Wahrheit, die uns irgendjemand irgendwo gegeben hat – wir begreifen und verstehen stattdessen: dass die Wahrheit, nach der wir suchen, schon längst in uns brennt wie ein Licht und nur bewusst ‚wahr‘-genommen zu werden braucht. Wir müssen sie nur entdecken.“… Der Berliner Politikwissenschaftler und Yoga-Lehrer Hans-Peter Hempel zeigt auf, was Zen für die Menschen im 21. Jahrhundert sein kann. Diese Wahrheit hat Eckehart von Hochheim, genannt Meister Eckhart, Jahrhunderte früher aus der Tradition der Mystik inhaltlich sehr ähnlich formuliert. „In uns existiert etwas, das eins ist mit Gott und nicht vereint, deshalb soll der Mensch sich nicht genügen lassen an einen gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben. Niemals steht ein Unfriede in dir auf, der nicht aus dem Ich kommt, ob man es nun merkt oder nicht. Darum fang zuerst bei dir selbst an und lass dich.“

Seit jeher üben die Worte dieses mittelalterlichen Mystikers eine enorme Faszination auf all jene aus, die auf der Suche nach ihrem individuellen „weglosen Weg“ sind, wie Eckhart es formuliert.

Wer war Meister Eckhart?
Obwohl es eine umfangreiche Forschung zu Meister Eckhart gibt, sind viele Details noch unbekannt. Als sicher gilt wohl dies: Um 1260 geboren, ist Eckhart schon jung mit den Erfurter Dominikanern in Kontakt gekommen. Er studiert in Paris und Köln und wird Prior des Erfurter Klosters. In Köln wie in Paris predigt er immer wieder vor Dominikanerinnen und Beginen. In Paris hat er wohl den „Spiegel der einfachen Seelen“, ein Buch von der Begine Marguerite Porete, zur Kenntnis genommen. Dieses Buch sowie dessen Autorin wurden nach kirchlicher Verurteilung verbrannt.

Von 1303 bis 1311 leitet Meister Eckhart die damals neu geschaffene Dominikanerordensprovinz Saxonia. Bis 1322 wirkt er als Vikar des Ordensgenerals in Straßburg. Ab 1323 lehrt Eckhart am Studium Generale der Dominikaner in Köln, wo er unter Druck des Kölner Erzbischofs Heinrich von Virneburg gerät. Der lässt die Schriften Eckharts auf ihre „Rechtgläubigkeit“ untersuchen. Am 27. März 1329 werden schließlich durch Papst Johannes XXII. 17 Passagen aus den Werken Eckharts als irrig und häretisch verurteilt. Eckhart selbst erlebt dies nicht mehr, er ist im April 1328 verstorben, vermutlich auf dem Weg nach Avignon, wo er sich noch vor dem Papst rechtfertigen wollte. Überliefert sind uns viele seiner Traktate und Predigten, weil Ordensfrauen und Beginen sie mitschrieben und so für die Nachwelt erhielten. Als sicher gilt inzwischen, dass Eckhart viele dieser Texte selbst autorisiert hat. Über lange Zeit war sein Denken durch die Verurteilung des Papstes, die bislang nicht revidiert wurde, einem Mit-Denkverbot unterworfen. Wenn Zitate aus seinen Schriften genommen wurden, ließen die Theologen den Namen Eckharts weg, damit sie nicht ebenfalls in den Sog seiner Verurteilung gerieten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Renaissance der Gedanken Eckharts, belegt beispielsweise durch Erich Fromms Buch „Haben oder Sein“.

Wie seine Schüler Johannes Tauler und Heinrich Seuse steht auch Eckhart in der Traditionslinie von Platon (ca. 427-347 v.u.Z.), vom spätantiken Philosophen Proklos (311-485), von Plotin (um 205-270) und Dionysius Areopagita (um 550). Aber auch in der von Augustinus (354-430), Dominikus (ca. 1170-1221) und Thomas von Aquin (ca. 1225- 1274). Zeitlich fast parallel dazu waren innerhalb des Buddhismus in Japan die Rinzai-Schule (Eisai /1141-1215) – und die für die Parallelen zu Eckhart bedeutendere Soto-Schule (Dogen / 1200- 1253) entstanden.

Leerheit, Soheit, absolutes Jetzt
Was sind die Themen, um die es Eckhart in seinen Predigten und Traktaten immer wieder geht? Von der „Leerheit“ spricht der Mystiker, von zeitloser Zeit, von der „Ist-heit“, der „So-heit“ und „Wesenheit“, vom „absoluten Jetzt“, vom „Nun“ … Von allen verstanden zu werden, gelingt eher seinem Schüler, dem „Lebemeister“ Johannes Tauler, als dem „Lesemeister“ Eckhart selbst. Dem Vorwurf, schwer verständlich zu sein, begegnete er mit Sätzen wie: „Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen.“ Es geht Eckhart nicht nur darum, die Ratio, den Verstand des Menschen zu erreichen. Er will ihm vielmehr den Weg ebnen, sich in seiner Ganzheit und seiner Einheit mit Gott zu erkennen und anzunehmen.

Im Denken seiner Zeit verhaftet, benutzt Eckhart Begriffe wie „Gott“ ganz selbstverständlich. Doch er weitet sie gleichzeitig aus und belässt sie nicht in ihrer von der römischen Kirche dogmatisch geprägten Engführung. Denn wie Dionysius Areopagitas und andere weiß Eckhart um die Bedeutung des Unbeschreiblichen der eigenen Erfahrung. Gegen die festgelegten Ordnungen von Dogmen und Institutionen setzte er die lebendige Erfahrung – nur letztere führt zum Entscheidenden: Alle von Menschen festgeschriebenen Unterscheidungen werden überwunden, und es tut sich die intensive Erfahrung der Einheit des Ichs mit allem Sein auf.

Der Verstand, der nicht versteht
Im Zen geht es ebenfalls darum, sich selbst auf den „weglosen Weg“ zu machen, sich einzulassen auf die Ur-Kraft, die aus der eigenen Erfahrung erwächst: „Sich selbst erfahren heißt, sich selbst vergessen, sich selbst vergessen heißt, sich selbst wahr- zunehmen in allen Dingen. Dieses Erkennen ist das Abfallen von Geist und Körper“, heißt es bei Dogen, dem Zen-Patriarchen. Und Hui-Neng formuliert: „Denke nicht an Gutes, denke nicht an Böses, sondern sieh, was in diesem Augenblick dein eigenes, ursprüngliches Aussehen ist, das du schon hattest vor deiner Geburt“. Negative Aussagen über die Wahrheit sind für diese Tradition typisch. Wenn Ashvagosha von der So-, Ist- oder Wesenheit spricht, ist der Weg nicht weit zu der Tradition der negativen Theologie, die Eckhart teils übernommen hat: „ … das über dem geschaffenen Sein der Seele ist und das kein Geschaffensein rührt, das ja nichts ist“ – über „das“, das zur transzendenten Welt führt, lässt sich kaum anders reden. Wie heißt es doch in dem Zen-Paradoxon: „Der Verstand, der nicht versteht, das ist Buddha. Es gibt keinen anderen“.

„Wir schauen es, doch sehen es nicht. Es ist unsichtbar. Wir hören es, doch horchen es nicht. Es ist unerhochbar. Wir fassen es, doch erfassen es nicht. Es ist unerfassbar“, hatte Lao-Tse im 14. Spruch des Tao Te King geschrieben. Zen, die Erfahrung des Selbst in seiner Unmittelbarkeit, ist ebenfalls unbeschränkt, offen und weit. Zen überschreitet jene letzten Grenzen, die gesetzt werden, hebt damit die falschen Dualismen zwischen Innen und Außen auf und entzieht sich gleichzeitig allen Versuchen, es in abstrakte Begriffe, in erläuternde Formulierungen oder Redewendungen zu bringen, die über das Un-Sagbare der Wahr-Nehmung einen Deckel des scheinbaren Verstehens stülpen.

Zen, die Brücke
„Die Menschen der Zukunft werden ‚Erwachte‘ sein. Dann haben sich Religionen zu Wegen in die Erfahrung der Wirklichkeit verwandelt. Zen kann dabei eine wichtige Rolle spielen, weil es von seinem Wesen her transkonfessionell ist“, sagt der Benediktiner und Zen-Meister Willigis Jäger. Und er begegnet hier Taisen Deshimaru, dessen Fazit lautet: „Durch die Stille, das Ende des Denkens, aller Worte, aller Spekulation, durch das Zur-Ruhe-Kommen des Geistes wird Gott im Menschen immanent. Er kehrt zurück zu Gott, der Urkraft, es vereinigt sich, was vormals schon eins war.“

„Nim din selbes war“ – das Wort Meister Eckharts lädt ein, sich auf jenen Weg nach innen zu machen, der zum Weg nach außen wird. Eckhart hat – wie auch andere Mystiker – keine konkrete Methode, keine praktischen Vorschläge für die Realisierungen seiner Gedanken gepredigt. Hier kann Zen eine Brücke schlagen. Ganz still – hier und jetzt. Der Politologe und Yoga-Lehrer Hans-Peter Hempel ist davon überzeugt: „Wenn wir alle nur im Verlaufe des Tages ein paar Minuten im stillen Sitzen ‚da‘-sein können, dann reicht das schon aus, um uns unserer Buddha-Natur, unseres ureigenen Potenzials bewusst zu werden.“

Werner Anahata Krebber

Mehr Texte zu Mystik und Spiritualität hier:

https://mystikaktuell.wordpress.com/2011/12/14/den-weg-zum-selbst-gehen/