Iwan S. Turgenew: Christus

Foto: (c) wak

Ich sah mich als Jüngling, fast noch als Knaben in einer niedrigen Dorfkirche. — Die Flämmchen der dünnen Wachskerzen glühten wie kleine rote Punkte vor den alten Heiligenbildern.

Ein kleiner regenbogenfarbiger Lichtschein umgab jedes einzelne Flämmchen. Es war düster und dämmerig in der Kirche … Vor mir aber standen eine Menge Leute. Lauter schlichte, blonde Bauernköpfe. Von Zeit zu Zeit neigten sie sich, beugten sich herab und erhoben sich wieder gleich reifen Kornähren, wenn der sommerliche Wind wie eine sanfte Woge über sie hinstreicht. Mit einem Male kam jemand von hinten heran und trat neben mich.

Ich wandte mich nicht nach ihm um — aber ich fühlte sofort: dieser Mensch ist — Christus.

Rührung, Neugier und Angst bemächtigten sich meiner im selben Augenblick. Ich nahm mich zusammen … und sah meinen Nachbar an.

Ein Gesicht wie das aller anderen — ein Gesicht, das allen Menschengesichtern gleicht. Die Augen blicken ein wenig aufwärts, andächtig und ruhig. Die Lippen sind geschlossen, aber nicht zusammengepreßt: die Oberlippe ruht gleichsam auf der unteren; der kurze Bart ist in der Mitte geteilt. Die Hände gefaltet und unbeweglich. Auch die Kleidung ist dieselbe wie bei allen übrigen.

»Wie kann das Christus sein!« dachte ich bei mir. »Solch einfacher, einfacher Mensch! Es ist unmöglich!«

Ich kehrte mich ab. Doch ich hatte kaum den Blick von diesem einfachen Menschen abgewandt, als mich wiederum das Gefühl überkam, als stünde wirklich Christus an meiner Seite.

Noch einmal nahm ich mich zusammen … Und wieder erblickte ich dasselbe Antlitz, das allen Menschengesichtern gleicht, dieselben alltäglichen, wenn auch unbekannten Züge.

Da wurde es mir plötzlich schwer ums Herz — und ich kam zu mir. Nun begriff ich erst, daß gerade solch ein Antlitz — ein Antlitz, das allen Menschengesichtern gleicht — Christi Antlitz sei.

Iwan S. Turgenew (1818 – 1883) in: Gedichte in Prosa. Übertragen von Theodor Commichau, Leipzig 1922

Das heilige Erlebnis vor dem Zerreden des Mysteriums schützen

Das mystische Erleben der „anderen Wirklichkeit“ tut sich in Tausenden von Werken religiöser Literatur, der Dichtung und der bildenden Kunst kund. Allein das Zeugnis dieser stupenden Schaffenskraft sollte uns von der Wirklichkeit und Bedeutung des zugrunde liegenden Erlebens überzeugen. Dieses ist „mystisch“, nicht weil es dunkel und verschwommen ist, sondern weil es direkt, unvermittelt, spontan – und darum nicht dem urteilenden Intellekt zugänglich ist. Der Myste des Altertums (ebenso wie der des alten Tibet) war nicht ein Schwärmer, sondern ein Eingeweihter, ein Wissender, ein durch Erfahrungen und Prüfungen Gegangener, einer, dessen Lippen verschlossen waren, nicht um ein Geheimnis zu hüten, sondern um das heilige Erlebnis vor der Profanisierung zu schützen, vor der intellektuellen Neugierde, vor dem Zerreden des Mysteriums. Denn nur durch Kontemplation, Meditation und Selbsthingabe kann dieses Wissen erworben werden. In dem Maße aber, in dem die Selbsthingabe verwirklicht wird, wächst dieses Wissen über die Grenzen des Persönlichkeitscharakters und der individuellen Beschränkungen und die sie bedingenden psychologischen Fakten hinaus. Da nach buddhistischer Auffassung – insbesondere nach der der Vijnanavadins – unser Tiefenbewusstsein das Reservoir universeller Erfahrung ist, so wie unser individuelles Gedächtnis das Behältnis unserer persönlichen Erfahrung – so ergibt sich die Möglichkeit, im Zustande der Versenkung oder Verinnerlichung, d. h. nach Ausschaltung des intellektuellen, nach außen gerichteten Oberflächenbewusstseins, Wissensinhalte zutage zu fördern, die weder in diesem individuellen Leben erworben noch durch „persönliche“ Erfahrungen oder Charaktereigenschaften bedingt sind. Die Aussagen der modernen Tiefenpsychologie, die dem „Unbewussten“, d.h. dem Tiefenbewusstsein, die gleichen Eigenschaften zuerkennt wie der Buddhist dem „Schatzkammerbewusstsein“ (alaya-vijnana), sind ein weiterer Beleg für die Berechtigung dieser Anschauung.

Anagarika Govinda (1898 – 1985) auf die Frage „Gibt es ein mystisches Erleben der ‚anderen Wirklichkeit‘? Wie verhält es sich mit der meditativen Erfahrung? Kann die Versenkung des Menschen in sein eigenes Selbst mehr zutage fördern als die sein Wesen und seinen Charakter bestimmenden psychologischen Fakten? In: die antwort der religionen. eine umfrage mit 31 fragen von Gerhard Szczesny bei „glaubensfachleuten“ der großen bekenntnisgemeinschaften. München 1964 / Reinbek bei Hamburg 1971, S. 74

Das Bild „Mandala (Der heilige Kreis)“ erschien hier: Lama Anagarika Govinda – Schöpferische Meditation und Multidimensionales Bewusstsein, 178 f., Aurum-Verlag, Breisgau, 1977. Jetzt aktuell nachzulesen in: Magische Blätter. Monatsschrift für geistige Lebensgestaltung.CI. Jahrgang, Juni 2020, Heft 5, S. 162 https://verlagmagischeblaetter.eu/monatsschrift/magische-blaetter

Sein Leben in den Mantel der Abgeschlossenheit hüllen

Um Gott den einzig würdigen und verehrungsvollen Lobgesang anzustimmen, muss man seine Lippen in ungebrochenem Schweigen vor den heiligen Dingen dicht verschließen.

Ein Mystiker ist darum ein Mensch, der sein Leben in den Mantel der Abgeschlossenheit hüllt und die von Erfahrung breit getretenen Verbindungswege mit der äußeren Welt absperrt, nicht um auf das Erspähen und auf das Hinhören und auf die Fähigkeit der Rede zu verzichten, sondern umgekehrt:

Um das innere Sehorgan dem Erschauen übersinnlicher Erscheinungen zu öffnen und die Schallwellen aus der Welt, die über der Erfahrung steht, einzufangen.

Ernesto Buonaiuti (1881 – 1946)

In den Mantel der Abgeschlossenheit hüllen

Um Gott den einzig würdigen und verehrungsvollen Lobgesang anzustimmen, muss man seine Lippen in ungebrochenem Schweigen vor den heiligen Dingen dicht verschließen.

Ein Mystiker ist darum ein Mensch, der sein Leben in den Mantel der Abgeschlossenheit hüllt und die von Erfahrung breit getretenen Verbindungswege mit der äußeren Welt absperrt, nicht um auf das Erspähen und auf das Hinhören und auf die Fähigkeit der Rede zu verzichten, sondern umgekehrt:

Um das innere Sehorgan dem Erschauen übersinnlicher Erscheinungen zu öffnen und die Schallwellen aus der Welt, die über der Erfahrung steht, einzufangen.

Ernesto Buonaiuti (1881 – 1946)

Mantel der Abgeschlossenheit

Um Gott den einzig würdigen und verehrungsvollen Lobgesang anzustimmen, muss man seine Lippen in ungebrochenem Schweigen vor den heiligen Dingen dicht verschließen.

Ein Mystiker ist darum ein Mensch, der sein Leben in den Mantel der Abgeschlossenheit hüllt und die von Erfahrung breit getretenen Verbindungswege mit der äußeren Welt absperrt, nicht um auf das Erspähen und auf das Hinhören und auf die Fähigkeit der Rede zu verzichten, sondern umgekehrt:
um das innere Sehorgan dem Erschauen übersinnlicher Erscheinungen zu öffnen und die Schallwellen aus der Welt, die über der Erfahrung steht, einzufangen.

Ernesto Buonaiuti (1881 – 1946; Katholischer Theologe und Repräsentant des italienischen Modernismus)

Sich im Grund berühren lassen

Anders als viele Methoden etwa der körperlichen Entspannung erhebt Zen explizit einen existentiell-spirituellen Anspruch. Der Übende greift mit seiner Aufmerksamkeit tief in sich hinein, lässt sich berühren in seinem Grund. Das Schweigen steht im Dienst dieser Wandlung, öffnet einen Raum, in dem nicht nur das Äußere, sondern nach und nach auch das Innere still wird. Diese Atmosphäre ist ein hoher Wert, den in einem gemeinsamen Kurs alle Teilnehmer hüten wie einen zerbrechlichen Schatz. In solches Schweigen hinein gesprochene Worte erheben den Anspruch, aus dem Schweigen zu kommen und wieder dort hinein zu führen. Es sollen Worte sein möglichst nahe am Unsagbaren. Sie dürfen nicht wieder neue, gerade los gelassene Begriffswelten im Inneren erstehen lassen. Sie sollen das Eigentliche, das Wesen, die Urgestalt des Menschen transparent werden lassen. Sie sind Ausfluss des inneren Berührtseins, ähnlich wie ein Stoßseufzer aus erlebter Ohnmacht und zugleich als tiefste Bitte um Hilfe, um Erbarmen. Was so an den Wächtern des „Vernünftigen“ vorbei gegangen ist, ist Sprache des Menschen, der zu sich selbst findet und der eigenen Wesensnatur ihr „Stimmrecht“ zurück gibt.

P. Paul Rheinbay S.A.C.: Rede, ohne die Lippen zu bewegen – So lange schweigen?

Der ganze Text findet sich hier:
http://zen-kontemplation.de/fileadmin/zen/pdf/schweigen_01.pdf