Erfahrung des Ergriffenseins

Jean Benner, L’Extase / Foto: (c) wak

Spiritualität ist die  Erfahrung des Ergriffenseins durch den göttlichen Geist. Sie ist das Gespür für das Absolute, für das Alles-Transzendierende und Alles-Durchdringende, für das Göttliche. Spiritualität ist eine universelle Erfahrung der Geborgenheit im tragenden Seinsgrund und das Angezogenwerden vom letzten Ziel. Jeder Mensch hat eine Spiritualität im weiten Sinn des Wortes. Spiritualität verleiht dem Alltag den letzen Sinn und den Mut zum Sein.

Sebastian Painadath SJ (* 1942)

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Das heilige Erlebnis vor dem Zerreden des Mysteriums schützen

Das mystische Erleben der „anderen Wirklichkeit“ tut sich in Tausenden von Werken religiöser Literatur, der Dichtung und der bildenden Kunst kund. Allein das Zeugnis dieser stupenden Schaffenskraft sollte uns von der Wirklichkeit und Bedeutung des zugrunde liegenden Erlebens überzeugen. Dieses ist „mystisch“, nicht weil es dunkel und verschwommen ist, sondern weil es direkt, unvermittelt, spontan – und darum nicht dem urteilenden Intellekt zugänglich ist. Der Myste des Altertums (ebenso wie der des alten Tibet) war nicht ein Schwärmer, sondern ein Eingeweihter, ein Wissender, ein durch Erfahrungen und Prüfungen Gegangener, einer, dessen Lippen verschlossen waren, nicht um ein Geheimnis zu hüten, sondern um das heilige Erlebnis vor der Profanisierung zu schützen, vor der intellektuellen Neugierde, vor dem Zerreden des Mysteriums. Denn nur durch Kontemplation, Meditation und Selbsthingabe kann dieses Wissen erworben werden. In dem Maße aber, in dem die Selbsthingabe verwirklicht wird, wächst dieses Wissen über die Grenzen des Persönlichkeitscharakters und der individuellen Beschränkungen und die sie bedingenden psychologischen Fakten hinaus. Da nach buddhistischer Auffassung – insbesondere nach der der Vijnanavadins – unser Tiefenbewusstsein das Reservoir universeller Erfahrung ist, so wie unser individuelles Gedächtnis das Behältnis unserer persönlichen Erfahrung – so ergibt sich die Möglichkeit, im Zustande der Versenkung oder Verinnerlichung, d. h. nach Ausschaltung des intellektuellen, nach außen gerichteten Oberflächenbewusstseins, Wissensinhalte zutage zu fördern, die weder in diesem individuellen Leben erworben noch durch „persönliche“ Erfahrungen oder Charaktereigenschaften bedingt sind. Die Aussagen der modernen Tiefenpsychologie, die dem „Unbewussten“, d.h. dem Tiefenbewusstsein, die gleichen Eigenschaften zuerkennt wie der Buddhist dem „Schatzkammerbewusstsein“ (alaya-vijnana), sind ein weiterer Beleg für die Berechtigung dieser Anschauung.

Anagarika Govinda (1898 – 1985) auf die Frage „Gibt es ein mystisches Erleben der ‚anderen Wirklichkeit‘? Wie verhält es sich mit der meditativen Erfahrung? Kann die Versenkung des Menschen in sein eigenes Selbst mehr zutage fördern als die sein Wesen und seinen Charakter bestimmenden psychologischen Fakten? In: die antwort der religionen. eine umfrage mit 31 fragen von Gerhard Szczesny bei „glaubensfachleuten“ der großen bekenntnisgemeinschaften. München 1964 / Reinbek bei Hamburg 1971, S. 74

Das Bild „Mandala (Der heilige Kreis)“ erschien hier: Lama Anagarika Govinda – Schöpferische Meditation und Multidimensionales Bewusstsein, 178 f., Aurum-Verlag, Breisgau, 1977. Jetzt aktuell nachzulesen in: Magische Blätter. Monatsschrift für geistige Lebensgestaltung.CI. Jahrgang, Juni 2020, Heft 5, S. 162 https://verlagmagischeblaetter.eu/monatsschrift/magische-blaetter

Universeller Strom der Ideen

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Der verborgene Fluss der Gnosis ist Teil des universellen Stroms der Ideen, der unter der Oberfläche des menschlichen Bewusstseins verläuft. Die Absicht der antiken Schriftsteller wie auch unserer eigenen zeitgenössischen Suche nach Bedeutung entspringt der gleichen Quelle;  nämlich dem Wunsch, die Funken der Göttlichkeit zu befreien, die von Anfang an in die natürliche Welt eingebettet waren. Diese schimmern manchmal in der Weisheit der alten Väter, manchmal in den frühreifen Fragen eines unschuldigen Kindes. Die Funken wandern durch die Jahrhunderte, tauchen als  Faust in der poetischen Imagination Goethes auf, leuchtend in den Sinfonien des Kindes Mozart, beleben die denkwürdigen Fantasien, die aus der Feder von William Blake fließen.

June Singer (1920 – 2004) in ihrem Vorwort zu „The Gnostic Book of Hours“ (2003)

Die Mystiker werden die wir sein sollen

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Wenn wir darunter eine Erfahrung des Einsseins mit der Höchsten Wirklichkeit verstehen, dann haben wir eine brauchbare Arbeitsdefinition von mystischer Erfahrung. Wir tun gut daran, wenn wir den Terminus „Gott“ nicht mit einbeziehen. Nicht alle Menschen fühlen sich wohl dabei, die Höchste Wirklichkeit „Gott“ zu nennen. Aber gleich welche Terminologie, alle von uns können Momente überwältigender, grenzenloser Zugehörigkeit, Augenblicke universellen Eins-seins erfahren. Das sind unsere eigenen mystischen Momente. Die Männer und Frauen, die wir Mystiker nennen, unterscheiden sich vom Rest von uns lediglich dadurch, dass sie jenen Erfahrungen den Raum geben, der ihnen in unser aller Leben zusteht. Was zählt, ist nicht die Häufigkeit oder Intensität mystischer Erfahrungen, sondern der Einfluss, den wir ihnen auf unser Leben einräumen. Indem wir unsere mystischen Momente mit allem, was sie bieten und verlangen, zulassen, werden wir die Mystiker, die wir sein sollen. Schließlich ist der Mystiker keine besondere Art Mensch, sondern jeder Mensch eine besondere Art Mystiker.

David Steindl-Rast (*1926)  zum Stichwort „Mystische Erfahrung“ in: Fülle und Nichts. Die Wiedergeburt christlicher Mystik. 1986, S. 178

Sich dem Leben öffnen und Kommunikation damit eingehen

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Vielleicht wird dies einige Leute aus der Fassung bringen, doch ich fürchte, Liebe hat keinesfalls nur mit Erfahrung von Schönheit und romantischem Glück zu tun. Zur Liebe gehört auch Häßlichkeit und Schmerz und Aggression, gemeinsam mit der Schönheit der Welt. Sie ist nicht die Wiedererschaffung eines himmlischen Zustandes. Liebe oder Mitgefühl, der offene Weg, bezieht sich auf das, „was ist“. Damit wir Liebe entwickeln können – universelle Liebe, kosmische Liebe oder wie wir sie sonst bezeichnen wollen -, müssen wir die gesamte Lebenssituation akzeptieren, mit ihren hellen und dunklen, ihren guten und schlechten Seiten. Wir müssen uns dem Leben öffnen und eine Kommunikation damit eingehen.

Chögyam Trungpa (1939 – 1987) in: Spirituellen Materialismus durchschneiden

Jeder Mensch ist eine besondere Art Mystiker

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Alle von uns können Momente überwältigender, grenzenloser Zugehörigkeit, Augenblicke universellen Eins-Seins erfahren. Das sind unsere eigenen mystischen Momente. Die Männer und Frauen, die wir Mystiker nennen, unterscheiden sich vom Rest von uns lediglich dadurch, dass sie jenen Erfahrungen den Raum geben, der ihnen in unser aller Leben zusteht. Was zählt, ist nicht die Häufigkeit oder Intensität mystischer Erfahrungen, sondern der Einfluss, den wir ihnen auf unser Leben einräumen. Indem wir unsere mystischen Momente mit allem, was sie bieten und verlangen, zulassen, werden wir die Mystiker, die wir sein sollen. Schließlich ist der Mystiker keine besondere Art Mensch, sondern jeder Mensch eine besondere Art Mystiker.

David Steindl-Rast (*1926) in seinem Buch „Fülle und Nichts. Die Wiedergeburt christlicher Mystik“, München 1985

Der kostbarste Schatz

Die Mystik ist eine Befreiungsbewegung der Menschheit und vielleicht der kostbarste Schatz, der dem Menschen je geschenkt wurde. Jedenfalls ist sie das effektivste Werkzeug zur Transformation der inneren Haltung und äußeren Handlungsweise, ja des ganzen Lebens. Aber wir alle müssen an diesem Wachstum teilhaben können – an der universellen mystischen Erfahrung, die jedem von uns zugänglich ist, wenn wir uns nur erlauben zu sein.

Wayne Teasdale (1945 – 2004)

Dein Erwachen bejubeln

Möchtest du aus deinem Traum erwachen oder lieber weiterträumen? Wie lange werden die Traumbilder Bestand haben? Sei nicht träge, schüttle deinen Schlaf ab und wach auf! Du bist ja Zeuge deiner mentalen Bilder, warum hältst du dann noch an ihnen fest? Das ist doch sinnlos. Finde heraus, wer es ist, der diese Traumbilder sieht. Täusche dich nicht, du bist nicht diese Bilderfolge, die in dir aufsteigt und wieder absinkt; wach auf! Im selben Augenblick, in dem du erwachst, wirst du erkennen, dass Wachsein besser ist als Träumen. Stehe auf! ICH-BIN-BRAHMAN wartet darauf, dein Erwachen zu bejubeln als Universelles ICH.

Aus “Ellam Ondre”