Sein durch die Liebe Gottes

Foto: (c) wak

Er zeigte mir ein kleines Ding, so groß wie eine Haselnuss, das in meiner Hand lag, und es erschien mir rund wie eine Kugel. Ich schaute es an und dachte: „Was mag das sein?“ – Und es wurde mir die allgemeine Antwort: „Das Geschaffene.“ Ich staunte, dass es bestehen konnte; denn ich dachte, es könne, so gering wie es war, leicht in nichts vergehen. Und mein Verstehen erhielt die Antwort: Es besteht und wird ewig bestehen, weil Gott es liebt; und so hat alles das Sein durch die Liebe Gottes.

In diesem kleinen Ding da sah ich dreierlei: Erstens, dass Gott es geschaffen hat; zweitens, dass Gott es liebt; drittens, das Gott es erhält.

Juliana von Norwich (ca. 1342 – ca. 1413)

In ein Licht entrückt werden das Gott selber ist

Foto: © wak

Wo sieht man Gott? Wo nicht Gestern noch Morgen ist, wo ein Heute ist und ein Jetzt, da sieht man Gott. Was ist Gott? Ein Meister spricht: Wenn das notwendig sein muss, dass ich von Gott rede, so sage ich, dass Gottes etwas ist, was kein Sinn begreifen oder erlangen kann: sonst weiss ich nichts von ihm. Ein anderer Meister sagt: Wer das von Gott erkennt, dass er unbekannt ist, der erkennt Gott. Wenn ich in Paris predige, so sage ich und darf es wohl sagen: alle hier in Paris können mit all ihrer Wissenschaft nicht begreifen, was Gott in der geringsten Kreatur, auch nur in einer Mücke, ist. Aber ich sage jetzt: die ganze Welt kann es nicht begreifen. Alles was man von Gott denken kann, das ist Gott ganz und gar nicht. Was Gott an sich selbst ist, dazu kann niemand kommen, der nicht in ein Licht entrückt wird, das Gott selbst ist. Was Gott den Engeln ist, das ist gar fern und niemand weiss es. Was Gott in einer gottliebenden Seele ist, das weiss niemand als die Seele, in der er ist. Was Gott in diesen niedern Dingen ist, das weiss ich ein wenig, aber sehr schwach. Wo Gott in der Erkenntnis wohnt, da fällt alle natürliche Sinnlichkeit ab. Dass wir so in ein Licht entrückt werden, das Gott selber ist, um darin in Ewigkeit selig zu sein, das walte Gott, Amen.

Meister Eckhart (1260 – 1328)

Abendmahl

Foto: © wak

Ewiges will zu uns. Wer hat die Wahl
und trennt die großen und geringen Kräfte?
Erkennst du durch das Dämmern der Geschäfte
im klaren Hinterraum das Abendmahl:

wie sie sich’s halten und wie sie sich’s reichen
und in der Handlung schlicht und schwer beruhn.
Aus ihren Händen heben sich die Zeichen;
sie wissen nicht, daß sie sie tun

und immer neu mit irgendwelchen Worten
einsetzen, was man trinkt und was man teilt.
Denn da ist keiner, der nicht allerorten
heimlich von hinnen geht, indem er weilt.

Und sitzt nicht immer einer unter ihnen,
der seine Eltern, die ihm ängstlich dienen,
wegschenkt an ihre abgetane Zeit?
(Sie zu verkaufen, ist ihm schon zu weit.)

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

Eins mit allem, was lebt

Wer sich eins fühlt mit allem, was da lebt, und die Leiden anderer als die eigenen empfindet, dem erscheint nicht nur das eigene Ungemach gering, sondern ihm fließt aus dieser inneren Verbundenheit auch die Kraft zu, zur Befreiung aller Wesen zu wirken und in diesem Streben die eigene Erlösung zu finden.

Anagarika Govinda (1898 – 1985)