Barmherzigkeit: Eine mystische Perspektive

Jan Zrzavý (1890 – 1977): Der barmherzige Samariter / Foto: © wak

Im Wort „Barmherzigkeit“ hören wir dagegen die tiefgründenden Pfeiler der griechisch-orthodoxen Kirche, wenn das „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“ im Jesusgebet erklingt, das Kyrie eleison, und das Gefühl von Gottes Erbarmen mit mir spürbar wird, von dem Jacques Lusseyran so häufig spricht. Dieses Wort trägt ein reiches und tiefgründiges Erbe der Hingabe; es beinhaltet etwas von dieser wunderschönen schöpferischen Weite. Falls wir tatsächlich ein „besseres“ Wort fänden, würden wir all das abschütteln. Wir würden eine lange Tradition abschneiden, die existiert und die unseren persönlichen christlichen Weg vertieft. Früher oder später werdet ihr darauf stoßen; ihr werdet das Herzensgebet entdecken. Praktisch alle wachsenden oder sich weiterentwickelnden Christen tun dies. Und ihr entdeckt das echte höhere Gefühlszentrum, die Lebendigkeit des Wortes „Barmherzigkeit“.

Cynthia Bourgeault (* 1947) in ihrem Artikel: Wie und wo finden wir mystische Hoffnung?
Mehr hier: https://chalice-verlag.de/cynthia-bourgeault-wie-finden-wir-mystische-hoffnung/

Ich atme ein und kehre zurück zu der Insel, die in mir ist

Ich atme ein und kehre zurück
Zu der Insel, die in mir ist.
Da gibt es wunderschöne Bäume,
Da gibt es Wasser, da gibt es Vögel.
Da gibt es Sonnenschein und frische Luft.
Ich atme aus und fühle mich sicher.

Meister Linji (9. Jh. u.Z.)

Licht und leer

Was für Wahrnehmungen dir auch begegnen, du solltest wie ein kleines Kind sein, das in einen wunderschönen Tempel kommt: Es schaut, aber keinerlei Greifen mischt sich in seine Wahrnehmung. So bleibt alles frisch, natürlich, lebendig und unverdorben. Wenn du alles in seinem eigenen Zustand belässt, verändert sich seine Form nicht, seine Farben verblassen nicht und sein Glanz verschwindet nicht. Was immer auch erscheint, bleibt unbefleckt von jeglichem Greifen, und so ersteht alles, was du wahrnimmst als die nackte Weisheit von Rigpa, der Untrennbarkeit von Lichtheit und Leerheit.

Dudjom Rinpoche