Jakob Böhme: Neues Sein und neues Leben

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Das Geheimnis liegt in der Menschwerdung Christi, die nicht nur als ein historisches Faktum, sondern vor allem als eine mystisch-existentielle Tatsache erfahren wird. Die Menschwerdung hat in jedem einzelnen zu geschehen, und zwar allen Widerständen und Hindernissen zum Trotz…
Alles zielt darauf hin, dass die Wiedergeburt als ein Akt einer tiefgreifenden, geistig-seelischen Erneuerung Ereignis wird. Eine nur äußerliche, auch im Sinne der Reformation Luthers „zugerechnete Gerechtigkeit“, die den „alten Adam“ unverändert läßt, nimmt Böhme mehrmals aufs Korn. Böhme möchte, dass Christi Licht und Kraft in jedem einzelnen wirksam wird. Sein christlich-esoterisches Streben soll der Intensivierung des Christus-Bewusstseins dienen und einen Zustrom an spiritueller Energie in Gang bringen, um schließlich ein neues Sein und ein neues Leben, das allein Christus schenkt, erfahrbar zu machen. Doch damit ist der Geisteslehrer längst zu einem spirituellen Meister und zum Seelenführer geworden, der in Wort und Schrift den Suchern auf dem Weg der Christusnachfolge entgegengeht, um ihnen Führung und Geleit zu geben.

Gerhard Wehr in: „Jakob Böhme – Der Geisteslehrer und Seelenführer“ zum christosophischen Aspekt Böhmes. Freiburg/Br. 1979, S. 70 – 71

Wir brauchen Transzendenz

Vieles haben wir Menschen mit anderen Tieren gemeinsam – etwa die Grundbedürfnisse nach Essen, Trinken oder Schlafen – darüber hinaus aber auch geistig-seelische Bedürfnisse, die vielleicht unsere Besonderheit ausmachen. In den Tag hinein zu leben ist für Menschen unbefriedigend; wir brauchen Transzendenz, Entrückung und Flucht; brauchen Sinn, Erkenntnis und Erklärung; brauchen allgemeingültige Muster, die in unserem Leben sichtbar werden. Wir brauchen Hoffnung und das Gefühl, eine Zukunft zu haben. Und wir brauchen die Freiheit (oder zumindest die Illusion der Freiheit), über uns selbst hinauszugelangen – egal, ob mit Teleskopen, Mikroskopen und anderen Erfindungen unserer unermüdlich fortschreitenden Technik oder in Bewusstseinszuständen, die uns ermöglichen, in andere Welten zu reisen, unsere unmittelbare Umgebung zu überschreiten. Wir brauchen diesen inneren Abstand genauso wie die intensive Teilnahme am Leben.

Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Über Menschen mit Halluzinationen. Reinbek 2013, S. 109