Im Stall von Bethlehem ist Platz für alle

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Dieses Geheimnis duldet keine Kompromisse! Es verträgt keine Retusche! Ich kann es nur aus seiner letzten Transzendenz verstehen und verkünden! Aber aus seiner Fülle kann ich an alle sprechen! Funkspruch an alle Welt! Im Stalle von Bethlehem ist Platz für alle. Deren Auge sucht! Deren Herz hämmert! Deren Geist aufklingt! Die „guten Willens“ sind! Denen der Egoismus, die Brutalität, die Gemeinheit nicht Letztes ist. Bei Dostojewski bricht die Wirtshausszene in die Einladung des  Erlösers aus: „Kommet alle zu mir“! Platz für alle! An der Krippe des „Kyrios“! So sollen die Geistigen der Erde, wohin sie an Konfession, wohin sie an Partei, wohin sie an Lebensstil sich stellen mögen, in die „Arbeitsgemeinschaft“ des Nazareners treten! Sie sollen hier vor Anker gehen! Über diesen Leuchtturm ragt kein anderer lichtgewaltig! Kein Strom riß je in die Geschichte tieferes Bett! Keine Symphonie ließ je, wie diese, die Sphären erbeben! Wie immer die Menschen, die heutigen, die zukünftigen, die Offenbarung zum Problem gestaltend, vor Weihnachten stehen mögen, sie sollen ganz in die Nähe, ganz in den Radius, ganz in die Dynamik des Tages treten!

Carl Sonnenschein (1876 – 1929) in „Notizen“, Band 8, S. 73 ff. vom 25. Dezember 1927

Zitiert habe ich diese Passage in meinem Buch „Den Menschen Recht verschaffen. Carl Sonnenschein – Person und Werk“. EchterVerlag, Würzburg 1996, S. 110

Mit diesen Gedanken wünsche ich allen Leserinnen und Lesern meines Blogs „Mystik aktuell“ gute Weihnachtstage.

Werner A. Krebber

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Johann Bapstist Metz: Mystik als weg- und weiselose Nähe

Johann Baptist Metz (1928- 2019)

In: die antwort der religionen. eine umfrage mit 31 fragen von Gerhard Szczesny bei „glaubensfachleuten“ der großen bekenntnisgemeinschaften. München 1964 / Reinbek bei Hamburg 1971, S. 70 – 71

Ewald Vetters Altar

Altar von Ewald Vetter (1894–1981)

 

… Bei der körperstarken Wesenheit der Darstellung auf den beiden Flügeln bringt das Mittelbild durch seine Transzendenz Zwiespalt in die Komposition. Unsere Augen suchen immer wieder die beiden Schächer. Hier fühlen wir die irdische Sensation, die uns packt, während unsere Seele durch die umarmende Lichtsphäre des Mittelbildes übermächtig ins Unirdische gezogen wird. Religiös bedeutet das für uns das Weh des Dualismus, unter dem wir in heutiger Zeit besonders leiden; künstlerisch liegt darin eine Zerrissenheit, die beunruhigt, und die trotz des Themas der Erlösung die Seele des Beschauers doch nicht ganz erlöst. …

Zeitschrift für christliche Kunst, 34 Jahrgang, Heft 1-3, S. 37 – 40, 1921, L. Schwan Druckerei und Verlag, Düsseldorf

Der vollständige Beitrag „Ewald Vetters Altar“ von Egid Beitz ist hier nachzulesen:

MAGISCHE BLÄTTER BUCH V
CII. JAHRGANG FRÜHJAHR 2021

gebunden. ISBN 978-3-948594-06-0 – 20,00 €

https://verlagmagischeblaetter.eu/monatsschrift/magische-blaetter

Bestellt werden können die Magischen Blätter hier: kontakt@verlagmagischeblaetter.eu

Das offene Herz der Mystik in uns lebendig werden lassen

Foto: © wak

Von der „Stätte der Lebenskraft“ erzählt Ramana Maharshi einem seiner Schüler. Gelesen hat Ramana davon in der lange verschollenen „Quintessenz der achtgliedrigen Wissenschaft“. Dieses alte Ayurveda-Kompendium sieht das Herz als „Stätte des Bewusstseins, des sich selber gewahr seins.“ Und Maharshi ist davon überzeugt: „Das Selbst ist das Herz selber. Das Selbst ist die Stätte und Mitte selber. Es ist immerdar seiner selbst inne als ‚Herz’.“ Was aber hat es mit dem Herzen für uns auf sich? Vor allem zwei Traditionen werden daraufhin genauer befragt: das buddhistische Herz-Sutra und das ostkirchliche Herzensgebet. Und gefragt wird auch danach, wie Leben, wie das Selbst, verherzt werden und bleiben kann.

„Wir leben in einer Kultur, die blind für das spirituelle Leben ist. Sie ist spirituell ignorant, moralisch verwirrt, psychisch gestört und süchtig nach Gewalt, Unterhaltung und Konsum.“ So beschreibt Wayne Teasdale, Vorstandsmitglied des Parlaments der Weltreligionen, ein kollektives System, das in weiten Teilen Herz-los geworden ist. Es gilt daher – auch jetzt, ganz aktuell, sich zu erinnern…

Das Herz ist der Sitz des Lebens
In der Geschichte der unterschiedlichen Versuche von Seins-Erklärungen wird das Herz seit langem als der Sitz der Seele gesehen. Es wird als Sitz des Lebens bezeichnet, aber auch als der Ort des Denk- und Gedächtnisvermögens. „Die Nabelschnur des Seienden im Nichtseienden fanden die Dichter heraus, in ihrem Herz forschend“, heißt es in der altindischen Rigveda. Vedische Tradition sieht die geistige Kraft in das Herz des Menschen gesenkt. Nur ein kurzer Weg ist es zur Tradition der Upanishaden mit ihrer engen Verbindung von Herz und Geist: „Durch das Herz erkennt man die Wahrheit.“ Und hier ist bereits die Brücke zum Buddhismus geschlagen, wenn dort die fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) „das Herz zum Hort haben“. Im Herzen, so heißt es, kann der Meditierende der anderen Personen Herzen schauen und erkennen, wenn er das Gemüt auf die Erkenntnis der Herzen richtet. Worum geht es nun aber beim Herz-Sutra genau? Lassen wir uns zunächst einmal auf seinen Text ein, der ein Herz-Stück buddhistischer Tradition beschreibt, in dem wir das Wort „Herz“ selbst gar nicht finden werden:

Bodhisattva Avalokiteshvara, in der Übung der tiefen transzendenten Weisheit erkannte, dass alle fünf Skandas  leer sind und überwand so alles Leiden. Shariputra , Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist wirklich Leere, Leere wirklich Form. Das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und unterscheidendes Denken. Shariputra, die Formen aller Dinge sind leer, sie entstehen nicht und vergehen nicht, sie sind nicht rein und nicht unrein, nehmen nicht zu und nicht ab. Daher ist in der Leere keine Form, weder Empfindung, Wahrnehmung, Wollen oder unterscheidendes Denken, weder Auge, Ohr, Nase, Zunge oder Körper, weder Farbe, Ton, Duft oder Geschmack, weder Berührbares noch Vorstellung, weder ein Bereich der Sinnesorgane noch ein Bereich des Daseins, weder Unwissenheit noch ein Ende von Unwissenheit. Und so gibt es weder Alter noch Tod, noch ein Ende von Alter und Tod, weder Leiden noch Entstehen von Leiden, kein Anhäufen, Vernichten, keinen Weg, weder Erkennen noch Erreichen, weil es nichts zu erreichen gibt. Ein Bodhisattva lebt aus dieser Weisheit ohne Hindernis im Geist, ohne Hindernis und daher ohne Furcht. Jenseits aller Illusionen ist endlich Nirvana. Alle Buddhas der Vergangenheit leben aus dieser transzendenten Weisheit, erreichen die höchste Erleuchtung vollkommen und unübertroffen. Wisse daher, dass die transzendente Weisheit das große heilige Mantra ist, das große strahlende Mantra, das unübertroffene Mantra, das alle Leiden nimmt. Das ist wahr und ohne Fehl. Das ist das Mantra, verkündet in der transzendenten Weisheit. Es lautet:

GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SWAHA.

 

Täglich, so wird berichtet, rezitieren Zen-Mönche dieses Gate, gate, paragate, paramsagate bodhi swaha“, das für sie bedeutet:

„Gegangen, gegangen, über alles hinaus, über alles ganz und gar hinausgegangen“.

Oder wie es in einer der anderen Übersetzungen heißt:

„Gegangen, gegangen, den ganzen Weg hinübergegangen, alle hinübergegangen zum anderen Ufer, Erleuchtung, Lobpreis.“

Foto: © wak

Und was heißt das für uns ganz konkret? Im Herz-Schlag des Gewahr-Seins findet der Mensch jenen Ort, der sein Selbst wirklich ausmacht. Für den amerikanischen Zen-Meister Bernard Glassman beschreitet das Herz-Sutra jenen Weg, die Wirklichkeit über die Vielfalt der Realität, den Reichtum an Phänomenen und Unterscheidungen zu beschreiben. Und er verdeutlicht dies an dem Beispiel des „Zauberer von Oz“, in dem die Protagonistin Dorothy auf den gelben Ziegelsteinweg geschickt wird. „Diesen gelben Ziegelsteinweg gibt es jedoch nicht! Wir sind bereits auf ihm. Wo immer wir sind, befindet sich der gelbe Ziegelsteinweg. Auf diesem Weg gibt es kein Innen und kein Außen. Alles ist dieser Weg; wir alle sind auf dem Weg. Wohin? Er führt nirgendwo hin! Er ist der Herzschlag des Lebens in alle Richtungen.“ Und deshalb sagt er auch: „Wenn wir annehmen, wir praktizierten, um den Weg zu realisieren, begreifen wir nicht, worum es geht, denn dann gehen wir davon aus, dass wir durch Praxis etwas erreichen werden…. Nach der gleichen Logik denken wir, dass wir am Leben bleiben, weil wir atmen, als ob das Atmen unser Lebendig sein verursachen würde. Nein, beides findet gleichzeitig statt. Beides steht in keinem linearen Verhältnis, Ursache und Wirkung sind eins.“

In entscheidender Weise kommt es also für denjenigen, der das Herz-Sutra und das Mantra „Gate, gate…“ rezitiert darauf an, sich immer wieder neu zu vergegenwärtigen. Denn der Schlag des Herzens macht deutlich, wie lebendig wir sind. Und wie sieht es in der westlichen Tradition aus?

Franz-Xaver Jans-Scheidegger, der Theologe, Psychologe und Psychotherapeut im Haus „Via Cordis“ in Flüeli-Ranft weiß von den verschiedenen Wegen kontemplativer Spiritualität. Er schlägt eine Brücke von der östlichen zur westlichen Tradition, wenn er auf die Parallelen zum Herzensgebet hinweist. „Diese Art der Versenkungs-Meditation finden wir neben dem Mantra-Yoga auch im nama-japa (Murmeln des Gottesnamens) der Hindus, im dhikr der Sufis oder im Amida-Zen-Buddhismus. In der Verbindung von Wort (Laut, Klang), Rhythmus (Atem, Herzschlag) und Haltung tritt der Mensch bewusst in Resonanz mit den harmonikalen Strukturen der Schöpfungsordnung. Es findet dabei ein gegenseitiges Empfangen und Weiterschenken statt; und zwar im Herzen. Das Herz ist die eigentliche Person-Mitte des Menschen. In ihr fühlt er sich geeint und rückgebunden in das Mysterium des göttlichen Lebens.“

„Herz“ als Synonym für „Seele“
Bereits in der Theologie des Neuen Testamentes wird deutlich, dass es im Kontakt des Menschen zu Gott nicht um die Formulierung von Worten geht, die lediglich reine Lippen-Bekenntnisse bleiben. Im Herzen wird wirkliche Liebe sichtbar, wenn Paulus zum Beispiel im ersten Brief an die junge Gemeinde in Ephesus schreibt: „Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid…“ (1. Epheser 18).
Das Zentrum des Menschen, das Herz, hat in der jüdischen wie christlichen Tradition einen hohen Rang. Beim Herzensgebet geht es daher um das Wahrnehmen jener göttlichen Wirklichkeit in der Wesensmitte des Menschen, jener Wirklichkeit, die im Raum des Herzens verinnerlicht wird. Die Ursprünge dieses spirituellen Weges liegen für Christen im Neuen Testament, und zwar vor allem in jenen Stoßgebeten, die Menschen an Jesus richten, wenn es zum Beispiel heißt: „Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit uns“ (Matthäus 20,31) oder „Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns“ (Lukas 17,13). Es sind aber auch so knappe Sätze wie „Mein Jesus, Barmherzigkeit!“ oder „Jesus Christus, erbarme Dich meiner!“, die diesem Gebet Ausdruck verleihen.

Wie aber sieht die konkrete Praxis solcher Stoßgebete aus? Der spirituelle Autor Peter Dyckhoff nennt vor allem jene Punkte, die den inneren Prozess des kosmisch ausgerichteten Gebetes beschreiben:

•    sich sammeln,
•    Schließen der Augen;
•    Öffnen der „Augen der Seele“,
•    Loslassen von allen irdischen Abhängigkeiten,
•    Aufgeben aller konkreten Vorstellungen,
•    jegliche Anspannung abgeben,
•    Gedankenaktivität einstellen,
•    keine Worte machen,
•    die Führung des Geistes Gott überlassen,
•    Zustand tiefer Ruhe – alle Relationen sind aufgehoben,
•    die Seele trennt sich von ihrem belastenden Teil,
•    Vergeistigung der Seele,
•    die Seele erkennt das Bild Gottes,
•    Dasein vor Gott.

Ein Prozess, dessen Tiefe nicht ohne Folgen bleibt für den Übenden. Denn er wird immer mehr zu sich finden können. Der Theologe Emmanuel Jungclaussen mahnt jedoch auch: „Bei aller praktischen Übung ist jedoch zu bedenken, dass die Bitte um das Erbarmen des Herrn der Weg einer bedingungslosen Hingabe ist; denn nur Er weiß wirklich, wessen ich bedarf, um Ihm ganz zu gehören. Dieses Erbarmen kann daher unter Umständen einen äußerst schmerzlichen Läuterungsprozess mit sich bringen. ‚Herr Jesus Christus – erbarme Dich meiner’, das bedeutet: ‚Nimm mich, wie ich bin, und mach mich so, wie Du mich haben willst.’“ Nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als zwei verschiedene Weisen des Weges zum Selbst-Gewahrsein sind Herz-Sutra und Herzensgebet zu sehen. Zwei Wege, deren Kern die Einung, die „unio mystica“ des Menschen ist. Nicht von ungefähr werden in der Psychologie diese Wege als gleichrangig angesehen.

Foto: © wak

Wege zur Einheit
Auf die Wirkung der Zen-Meditation wie auf das Herzensgebet weist der Psychologe Maximilian Rieländer von der Sektion Gesundheitspsychologie des Bundesverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen hin. „In einem gestuften Übungsprozess kann man lernen, sich simultan auf mehrere Elemente meditativ zu konzentrieren, so wie sich z.B. ein Musiker auf ein mehrstimmiges Lied konzentriert. In einer Meditation ist das Üben einer kombinierten Körper-Geist-Konzentration sinnvoll, d.h. einer simultanen Konzentration auf ein körperliches Erleben wie Haltung, Atmung, Herzbewegungen, -schläge, sowie auf einen durch ein Wort oder einen Satz ausgedrückten geistigen Inhalt. Meditation kann sich positiv auf den persönlichen Lebensstil auswirken, wenn sie regelmäßig geübt wird, möglichst täglich mit einer Dauer von etwa 20 – 30 Minuten.“ Doch darum allein, so weiß der Psychologe, kann es sicher nicht gehen. So weist dann auch ein Merkblatt der Psychologischen Fachgruppe Entspannungsverfahren darauf hin: „Meditation dient nicht so sehr der Entspannung, sondern vielmehr dem allgemeinen Ziel der Vervollkommnung der Person; Begriffe wie ‚Erleuchtung‘ oder ‚Erlösung‘ und ‚Nirvana‘ machen auf diese religiöse, spirituelle und / oder transzendente Ausrichtung der Übungswege aufmerksam, und sie weisen somit über das Denken im Diesseits hinaus“.

 

 

 

 

 

Analytische Klugheit und erfahrbare Empathie
Der Weg des Herz-Sutras und der Weg des Herzensgebetes, ja alle Weisen, das Herz in unser spirituelles Leben mit einzubeziehen,  sind Herausforderungen an uns. Beide verlangen analytische Klugheit ebenso, wie sie zu erfahrbarer Empathie führen. Damit sind sie Wege, die uns immer wieder mahnen, uns zu erinnern. Und die uns ermöglichen, das offene Herz der Mystik in uns lebendiger werden zu lassen. Ganz so, wie es Bruder Wayne Teasdale vom Parlament der Weltreligionen formuliert hat – in tiefer Kenntnis davon, das Leben zu verherzen: „Das mystische Herz spiegelt in seiner Reife die wesentlichen Elemente und Gaben und die Genialität aller Traditionen der spirituellen Weisheit wider: eine verwirklichte moralische Kapazität, Solidarität mit allen lebenden Wesen, absolute Gewaltlosigkeit, Demut, spirituelle Praxis, reife Selbsterkenntnis, eine einfache Lebensweise, selbstloses Dienen und mitfühlendes Handeln und die prophetische Stimme. Diese Elemente werden weiter verfeinert durch eine Reihe von Fähigkeiten, die auf der inneren Reise erworben werden: Offenheit, Präsenz, Zuhören, Sein, Sehen, Spontaneität und Freude.“

Werner Anahata Krebber

Literatur
Glasman, Bernard: Das Herz der Vollendung. Unterweisungen eines westlichen Zen-Meisters. Theseus-Verlag. o.O. 2003;
Dyckhoff, Peter: Einfach beten. Don Bosco-Verlag. München 2001;
Jungclaussen, Emmanuel (Hg.): Das Jesusgebet – Anleitung zur Anrufung des Namens Jesus von einem Mönch der Ostkirche. Friedrich Pustet-Verlag. Regensburg 61994;
Krebber, Werner: Worte, die das Herz öffnen. Vorboten und Wegweiser zur Heilung. In: Connection special 72 „Aufbruch in den Religionen”, Niedertaufkirchen 2004;
Krebber, Werner: Worte, die heilen können. Bibliotherapien aus buddhistischem Geist. In: Connection special 70 „Buddhismus und Psychotherapie“, Niedertaufkirchen 2004;
Rieländer, Maximilian: Meditation, Herzensmeditation, Herzensgebet – Zur Einführung und Einübung. Seeheim 1993 (Selbstverlag);
Teasdale, Wayne: Das mystische Herz. Spirituelle Brücken bauen. Aurum im J. Kamphausen-Verlag. Bielefeld 2004;
Zimmer, Heinrich: Der Weg zum Selbst. Lehre und Leben des Shri Ramana Maharshi.
Hugendubel-Verlag. Kreuzlingen/München 2001 (Diederichs Gelbe Reihe)

 

Unendlichkeit des Seins

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Der Weg zur Transzendenz ist der Weg der Liebe. Lieben heißt, sich selbst zu erweitern, sich der Unendlichkeit des Seins zu öffnen, die in uns und um uns herum ist; diese Unendlichkeit des Seins in der Liebe meinen wir, wenn wir von Gott sprechen. Unser ganzes Sein nimmt dann eine kreative Entwicklung, es erfährt eine Vertiefung der integralen Harmonie von Herz und Verstand.

Bede Griffiths (1906-1993)

Gegensätze versöhnt und überwunden

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In allem spirituellen Leben ist in erster Linie das innere Leben wichtig. Der spirituelle Mensch lebt stets in seinem Innern. In einer Welt der Unwissenheit, die ihre Umwandlung verweigert, muß er sich in gewissem Sinn von dieser absondern und sein inneres Leben gegen das Eindringen und den Einfluß der dunkleren Mächte der Unwissenheit schützen. Er steht außerhalb der Welt, selbst wenn er mitten in ihr ist. Wirkt er auf sie ein, so geschieht das von der Burg seines inneren spirituellen Wesens aus, wo er im innersten Heiligtum eins ist mit dem höchsten Sein, wo allein seine Seele und Gott beieinander sind. Das gnostische Leben ist ein inneres Leben, in dem der Gegensatz von innen und außen, von Selbst und Welt, versöhnt und überwunden sein wird. Das gnostische Wesen wird in Wahrheit ein inneres Sein besitzen, in dem es mit Gott allein ist, eins mit dem Ewigen, selbst-versunken in die Tiefen des Unendlichen, in Kommunion mit dessen Höhen und mit den erleuchteten Abgründen seines Geheimnisses. Nichts wird es in diesen Tiefen stören oder in sie eindringen können; nichts wird es von diesen Höhen herabziehen können, weder die Inhalte der Welt, noch sein Wirken, noch alles, was ihn umgibt. Das ist der Aspekt der Transzendenz spirituellen Lebens. Für die Freiheit des Geistes ist er notwendig.

Aurobindo (1872- 1950) über den „gnostischeen Menschen“

Das Selbst ist das Herz selber, Stätte und Mitte

Von der „Stätte der Lebenskraft“ erzählt Ramana Maharshi einem seiner Schüler. Gelesen hat Ramana davon in der lange verschollenen „Quintessenz der achtgliedrigen Wissenschaft“. Dieses Ayurveda-Kompendium sieht das Herz als „Stätte des Bewusstseins, des sich selber gewahr seins.“ Und Maharshi ist davon überzeugt: „Das Selbst ist das Herz selber. Das Selbst ist die Stätte und Mitte selber. Es ist immerdar seiner selbst inne als ‚Herz’.“ Was aber hat es mit dem Herzen für uns auf sich? Zwei Traditionen werden daraufhin genauer befragt: das buddhistische Herz-Sutra und das ostkirchliche Herzensgebet. Und befragt wird damit auch, wie Leben, wie das Selbst, verherzt werden kann.

 

herzbuddhajesusFoto: privat

„Wir leben in einer Kultur, die blind für das spirituelle Leben ist. Sie ist spirituell ignorant, moralisch verwirrt, psychisch gestört und süchtig nach Gewalt, Unterhaltung und Konsum.“ Wayne Teasdale, Vorstandsmitglied des Parlaments der Weltreligionen, weist auf ein kollektives System hin, das in weiten Teilen Herz-los geworden ist. Es gilt daher, sich zu erinnern…

Das Herz ist der Sitz des Lebens
In der Geschichte der unterschiedlichen Versuche von Seins-Erklärungen wird das Herz seit langem als der Sitz der Seele gesehen. Es wird als Sitz des Lebens bezeichnet, aber auch als der Ort des Denk- und Gedächtnisvermögens. „Die Nabelschnur des Seienden im Nichtseienden fanden die Dichter heraus, in ihrem Herz forschend“, heißt es in der altindischen Rigveda. Vedische Tradition sieht die geistige Kraft in das Herz des Menschen gesenkt. Nur ein kurzer Weg ist es zur Tradition der Upanishaden mit ihrer engen Verbindung von Herz und Geist: „Durch das Herz erkennt man die Wahrheit.“ Und hier ist bereits die Brücke zum Buddhismus geschlagen, wenn dort die fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) „das Herz zum Hort haben“. Im Herzen, so heißt es, kann der Meditierende der anderen Personen Herzen schauen und erkennen, wenn er das Gemüt auf die Erkenntnis der Herzen richtet. Worum geht es nun aber beim Herz-Sutra genau? Lassen wir uns zunächst einmal auf seinen Text ein, der ein Herz-Stück buddhistischer Tradition beschreibt, in dem wir das Wort „Herz“ selbst gar nicht finden werden:

Bodhisattva Avalokiteshvara, in der Übung der tiefen transzendenten Weisheit erkannte, dass alle fünf Skandas  leer sind und überwand so alles Leiden. Shariputra , Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist wirklich Leere, Leere wirklich Form. Das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und unterscheidendes Denken. Shariputra, die Formen aller Dinge sind leer, sie entstehen nicht und vergehen nicht, sie sind nicht rein und nicht unrein, nehmen nicht zu und nicht ab. Daher ist in der Leere keine Form, weder Empfindung, Wahrnehmung, Wollen oder unterscheidendes Denken, weder Auge, Ohr, Nase, Zunge oder Körper, weder Farbe, Ton, Duft oder Geschmack, weder Berührbares noch Vorstellung, weder ein Bereich der Sinnesorgane noch ein Bereich des Daseins, weder Unwissenheit noch ein Ende von Unwissenheit. Und so gibt es weder Alter noch Tod, noch ein Ende von Alter und Tod, weder Leiden noch Entstehen von Leiden, kein Anhäufen, Vernichten, keinen Weg, weder Erkennen noch Erreichen, weil es nichts zu erreichen gibt. Ein Bodhisattva lebt aus dieser Weisheit ohne Hindernis im Geist, ohne Hindernis und daher ohne Furcht. Jenseits aller Illusionen ist endlich Nirvana. Alle Buddhas der Vergangenheit leben aus dieser transzendenten Weisheit, erreichen die höchste Erleuchtung vollkommen und unübertroffen. Wisse daher, dass die transzendente Weisheit das große heilige Mantra ist, das große strahlende Mantra, das unübertroffene Mantra, das alle Leiden nimmt. Das ist wahr und ohne Fehl. Das ist das Mantra, verkündet in der transzendenten Weisheit. Es lautet:

GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SWAHA.

Täglich, so wird berichtet, rezitieren Zen-Mönche dieses „Gate, gate, paragate, paramsagate bodhi swaha“, das für sie bedeutet:

„Gegangen, gegangen, über alles hinaus, über alles ganz und gar hinausgegangen“.

Oder wie es in einer anderen Übersetzung heißt:

„Gegangen, gegangen, den ganzen Weg hinübergegangen, alle hinübergegangen zum anderen Ufer, Erleuchtung, Lobpreis.“

Und was heißt das für uns ganz konkret? Im Herz-Schlag des Gewahr-Seins findet der Mensch jenen Ort, der sein Selbst wirklich ausmacht. Für den amerikanischen Zen-Meister Bernard Glassman beschreitet das Herz-Sutra jenen Weg, die Wirklichkeit über die Vielfalt der Realität, den Reichtum an Phänomenen und Unterscheidungen zu beschreiben. Und er verdeutlicht dies an dem Beispiel des „Zauberer von Oz“, in dem die Protagonistin Dorothy auf den gelben Ziegelsteinweg geschickt wird. „Diesen gelben Ziegelsteinweg gibt es jedoch nicht! Wir sind bereits auf ihm. Wo immer wir sind, befindet sich der gelbe Ziegelsteinweg. Auf diesem Weg gibt es kein Innen und kein Außen. Alles ist dieser Weg; wir alle sind auf dem Weg. Wohin? Er führt nirgendwo hin! Er ist der Herzschlag des Lebens in alle Richtungen.“ Und deshalb sagt er auch: „Wenn wir annehmen, wir praktizierten, um den Weg zu realisieren, begreifen wir nicht, worum es geht, denn dann gehen wir davon aus, dass wir durch Praxis etwas erreichen werden…. Nach der gleichen Logik denken wir, dass wir am Leben bleiben, weil wir atmen, als ob das Atmen unser Lebendig sein verursachen würde. Nein, beides findet gleichzeitig statt. Beides steht in keinem linearen Verhältnis, Ursache und Wirkung sind eins.“

In entscheidender Weise kommt es also für denjenigen, der das Herz-Sutra und das Mantra „Gate, gate…“ rezitiert darauf an, sich immer wieder neu zu vergegenwärtigen. Denn der Schlag des Herzens macht deutlich, wie lebendig wir sind. Und wie sieht es in der westlichen Tradition aus?

Franz-Xaver Jans-Scheidegger, der Theologe, Psychologe und Psychotherapeut im Haus „Via Cordis“ in Flüeli-Ranft weiß von den verschiedenen Wegen kontemplativer Spiritualität. Er schlägt eine Brücke von der östlichen zur westlichen Tradition, wenn er auf die Parallelen zum Herzensgebet hinweist. „Diese Art der Versenkungs-Meditation finden wir neben dem Mantra-Yoga auch im nama-japa (Murmeln des Gottesnamens) der Hindus, im dhikr der Sufis oder im Amida-Zen-Buddhismus. In der Verbindung von Wort (Laut, Klang), Rhythmus (Atem, Herzschlag) und Haltung tritt der Mensch bewusst in Resonanz mit den harmonikalen Strukturen der Schöpfungsordnung. Es findet dabei ein gegenseitiges Empfangen und Weiterschenken statt; und zwar im Herzen. Das Herz ist die eigentliche Person-Mitte des Menschen. In ihr fühlt er sich geeint und rückgebunden in das Mysterium des göttlichen Lebens.“

„Herz“ als Synonym für „Seele“
Bereits in der Theologie des Neuen Testamentes wird deutlich, dass es im Kontakt des Menschen zu Gott nicht um die Formulierung von Worten geht, die lediglich reine Lippen-Bekenntnisse bleiben. Im Herzen wird wirkliche Liebe sichtbar, wenn Paulus zum Beispiel im ersten Brief an die junge Gemeinde in Ephesus schreibt: „Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid…“ (1. Epheser 18).
Das Zentrum des Menschen, das Herz, hat in der jüdischen wie christlichen Tradition einen hohen Rang. Beim Herzensgebet geht es daher um das Wahrnehmen jener göttlichen Wirklichkeit in der Wesensmitte des Menschen, jener Wirklichkeit, die im Raum des Herzens verinnerlicht wird. Die Ursprünge dieses spirituellen Weges liegen für Christen im Neuen Testament, und zwar vor allem in jenen Stoßgebeten, die Menschen an Jesus richten, wenn es zum Beispiel heißt: „Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit uns“ (Matthäus 20,31) oder „Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns“ (Lukas 17,13). Es sind aber auch so knappe Sätze wie „Mein Jesus, Barmherzigkeit!” oder „Jesus Christus, erbarme Dich meiner!“, die diesem Gebet Ausdruck verleihen.

Wie aber sieht die konkrete Praxis solcher Stoßgebete aus? Der spirituelle Autor Peter Dyckhoff nennt vor allem jene Punkte, die den inneren Prozess des kosmisch ausgerichteten Gebetes beschreiben:

•    sich sammeln,
•    Schließen der Augen;
•    Öffnen der “Augen der Seele”,
•    Loslassen von allen irdischen Abhängigkeiten,
•    Aufgeben aller konkreten Vorstellungen,
•    jegliche Anspannung abgeben,
•    Gedankenaktivität einstellen,
•    keine Worte machen,
•    die Führung des Geistes Gott überlassen,
•    Zustand tiefer Ruhe – alle Relationen sind aufgehoben,
•    die Seele trennt sich von ihrem belastenden Teil,
•    Vergeistigung der Seele,
•    die Seele erkennt das Bild Gottes,
•    Dasein vor Gott.

Ein Prozess, dessen Tiefe nicht ohne Folgen bleibt für den Übenden. Denn er wird immer mehr zu sich finden können. Der Theologe Emmanuel Jungclaussen mahnt jedoch auch: „Bei aller praktischen Übung ist jedoch zu bedenken, dass die Bitte um das Erbarmen des Herrn der Weg einer bedingungslosen Hingabe ist; denn nur Er weiß wirklich, wessen ich bedarf, um Ihm ganz zu gehören. Dieses Erbarmen kann daher unter Umständen einen äußerst schmerzlichen Läuterungsprozess mit sich bringen. ‚Herr Jesus Christus – erbarme Dich meiner’, das bedeutet: ‚Nimm mich, wie ich bin, und mach mich so, wie Du mich haben willst.’” Nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als zwei verschiedene Weisen des Weges zum Selbst-Gewahrsein sind Herz-Sutra und Herzensgebet zu sehen. Zwei Wege, deren Kern die Einung, die „unio mystica“ des Menschen ist. Nicht von ungefähr werden in der Psychologie diese Wege als gleichrangig angesehen.

Wege zur Einheit
Auf Zen-Meditation wie auf das Herzensgebet weist der Psychologe Maximilian Rieländer von der Sektion Gesundheitspsychologie des Bundesverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen hin. „In einem gestuften Übungsprozess kann man lernen, sich simultan auf mehrere Elemente meditativ zu konzentrieren, so wie sich z.B. ein Musiker auf ein mehrstimmiges Lied konzentriert. In einer Meditation ist das Üben einer kombinierten Körper-Geist-Konzentration sinnvoll, d.h. einer simultanen Konzentration auf ein körperliches Erleben wie Haltung, Atmung, Herzbewegungen, -schläge, sowie auf einen durch ein Wort oder einen Satz ausgedrückten geistigen Inhalt. Meditation kann sich positiv auf den persönlichen Lebensstil auswirken, wenn sie regelmäßig geübt wird, möglichst täglich mit einer Dauer von etwa 20 – 30 Minuten.“ Doch darum allein, so weiß der Psychologe, kann es sicher nicht gehen. So weist dann auch ein Merkblatt der Psychologischen Fachgruppe Entspannungsverfahren darauf hin: „Meditation dient nicht so sehr der Entspannung, sondern vielmehr dem allgemeinen Ziel der Vervollkommnung der Person; Begriffe wie ‚Erleuchtung‘ oder ‚Erlösung‘ und ‚Nirvana‘ machen auf diese religiöse, spirituelle und / oder transzendente Ausrichtung der Übungswege aufmerksam, und sie weisen somit über das Denken im Diesseits hinaus“.

Analytische Klugheit und erfahrbare Empathie
Der Weg des Herz-Sutras und der Weg des Herzensgebetes sind Herausforderungen an uns. Beide verlangen analytische Klugheit ebenso, wie sie zu erfahrbarer Empathie führen. Damit sind sie Wege, die uns immer wieder mahnen, uns zu erinnern. Und die uns ermöglichen, das offene Herz der Mystik in uns lebendiger werden zu lassen. Ganz so, wie es Bruder Wayne Teasdale vom Parlament der Weltreligionen formuliert hat – in tiefer Kenntnis davon, das Leben zu verherzen: „Das mystische Herz spiegelt in seiner Reife die wesentlichen Elemente und Gaben und die Genialität aller Traditionen der spirituellen Weisheit wider: eine verwirklichte moralische Kapazität, Solidarität mit allen lebenden Wesen, absolute Gewaltlosigkeit, Demut, spirituelle Praxis, reife Selbsterkenntnis, eine einfache Lebensweise, selbstloses Dienen und mitfühlendes Handeln und die prophetische Stimme. Diese Elemente werden weiter verfeinert durch eine Reihe von Fähigkeiten, die auf der inneren Reise erworben werden: Offenheit, Präsenz, Zuhören, Sein, Sehen, Spontaneität und Freude.“

Literatur

Glasman, Bernard: Das Herz der Vollendung. Unterweisungen eines westlichen Zen-Meisters. Theseus-Verlag. o.O. 2003;
Dyckhoff, Peter: Einfach beten. Don Bosco-Verlag. München 2001;
Jungclaussen, Emmanuel (Hg.): Das Jesusgebet – Anleitung zur Anrufung des Namens Jesus von einem Mönch der Ostkirche. Friedrich Pustet-Verlag. Regensburg 61994;
Krebber, Werner: Worte, die das Herz öffnen. Vorboten und Wegweiser zur Heilung. In: Connection special 72 „Aufbruch in den Religionen”, Niedertaufkirchen 2004;
Krebber, Werner: Worte, die heilen können. Bibliotherapien aus buddhistischem Geist. In: Connection special 70 „Buddhismus und Psychotherapie“, Niedertaufkirchen 2004;
Rieländer, Maximilian: Meditation, Herzensmeditation, Herzensgebet – Zur Einführung und Einübung. Seeheim 1993 (Selbstverlag);
Teasdale, Wayne: Das mystische Herz. Spirituelle Brücken bauen. Aurum im J. Kamphausen-Verlag. Bielefeld 2004;
Zimmer, Heinrich: Der Weg zum Selbst. Lehre und Leben des Shri Ramana Maharshi.
Hugendubel-Verlag. Kreuzlingen/München 2001 (Diederichs Gelbe Reihe)

© Werner Anahata Krebber

Erfahrung, dass alles heilig ist

Foto: © wak

Eine Fokussierung auf die Wahrheit der Mystik bedeutet somit keine Infragestellung von Religion, vielmehr ermöglicht sie eine Neubelebung religiöser Weltdeutung. Die Aufhebung der Grenzen zwischen Mensch und Gott, Kosmos und Transzendenz, muss keineswegs Säkularisierung bedeuten; Sie kann im Gegenteil zu der Erfahrung führen, dass alles heilig ist — eine Erfahrung, die glücklicherweise nicht legendären Gestalten wie etwa dem indischen Mystiker Ramakrishna vorbehalten ist, sondern heute von zahlreichen Menschen gemacht wird.

Joseph Campbell (1904 – 1987) in: Reflections on the Art of Living

Spiritualität der Zukunft: Suchbewegungen in einer multireligösen Welt – Buchtipp I / 2019

Martin Rötting / Christian Hackbarth-Johnson (Hrsg.)

Spiritualität der Zukunft
Suchbewegungen in einer multireligiösen Welt

EOS Editions Sankt Ottilien, 392 Seiten, 29,95 €
ISBN 978-3-8306-7932-5
Sankt Ottilien, 2019

„Eine Spiritualität, die zudem die Erkenntnisse der Neuzeit integriert, ob aus Theologie, Philosophie, Neuropsychologie, Kosmologie, Quantenphysik usw., steht letztlich vor noch nicht gebahnten Pfaden. Man orientiert sich an den Wegen der spirituellen Traditionen, spürt aber, dass diese in einer anderen Zeit, auf der Grundlage eines anderen Weltbildes, mit einer anderen Ausrichtung konzipiert wurden: Auch die ‚Wege der Transformation'“ haben eine Transformation nötig.“ So Christian Hackbarth-Johnson und Martin Rötting im Fazit des vorliegenden Sammelbandes, dem gerecht zu werden in knapper Form schwer fällt. Das jetzt vorliegende Buch ist Ergebnis einer Tagung, die sich unter analytischen Aspekten spirituellen Suchbewegungen zugewandt und dabei statistische wie theologische Fragen angesprochen hat.

In einem Hauptkapitel geht es zunächst um Pioniere einer interreligiösen Spiritualität, wo exemplarisch biographische Zugänge aufgezeigt werden. Sehr aufschlussreich der Beitrag über Hugo M. Enomiya-Lassalle, der zu Henri Le Saux (Swami Abhishiktananda) und jener über Paolo Dall’Oglio.

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit medialen Zugängen. Um den Film „Ai-un“ über Enomiya-Lassalle geht es da ebenso wie um Poetry Slam als Form der Spiritualität.

Einen breiten Raum nehmen Beiträge ein, die Formen gegenwärtiger Spiritualität beleuchten und damit sehr konkret praktische Zugänge beschreiben. Exemplarisch seien hier fünf genannt: Der Jesuit Stefan Bauberger schreibt über das spannende Verhältnis von Zen und Christentum, Christian Hackbarth-Johnson verweist auf das Verhältnis von Yoga und christlichem Gebet, Tanja Mancinelli zeigt sehr detailliert anhand von Hazrat Inayat Khan auf, was einen universellen Sufisms für alle ausmacht. Charlie Pils erläutert, wie Mantren einen Zugang zur Transzendenz schaffen können, Michael Seitlinger erläutert Achtsamkeit als säkulare Spiritualität. Und das sind – wie gesagt – nur fünf von 15 aufschlussreichen praktischen Hinweisen.

Ein letztes Hauptkapitel geht dann der Frage nach, ob Spiritualität Institution braucht. Martin Rötting schildert hier unter anderem die Herausforderungen von religiösen Suchbewegungen für Organisationen.

„Spiritualität der Zukunft – Suchbewegungen in einer multireligiösen Welt“ beweist, dass ein Sammel- und Tagungsband nicht langweilig sein muss, sondern zum lebendigen Dialog reichhaltig Anlass geben kann.

© Werner A. Krebber

 

Alle Autoren hier auf einen Blick, in der Reihenfolge ihrer Beiträge:

 Andreas Renz, Christian Hackbarth-Johnson, Martin Rötting, Detlef Pollack, Katharina Ceming, Jens Colditz, Holger Adler SJ, Ursula Baatz, Bettina Sharada Bäumer, Christian Rutishauser SJ, Fabrice Blée, Christof Wolf SJ, Olra Havenetidis, Felix Triendl, Maria Schmitt, Stefan Bauberger SJ, Bruno Brantschen SJ, Jan Sedivy, Andreas Ebert, Nicole Bauer, Tanja Mancinelli, Angelika Schumm, Charlie Pils, Oliver Behrendt, Laurie Ann Johnson, Michael Kaminski, Anneliese Gleditsch, Michael Seitlinger, Susanne Deininger, Marianus Bieber OSB, Andreas de Bruin

 

Sich selbst erweitern

Relief bei den Comboni-Missionaren in Mellatz Foto: © wak

Der Weg zur Transzendenz ist der Weg der Liebe.
Lieben heißt, sich selbst zu erweitern, sich der Unendlichkeit des Seins zu öffnen, die in uns und um uns herum ist; diese Unendlichkeit des Seins in der Liebe meinen wir, wenn wir von Gott sprechen.
Unser ganzes Sein nimmt dann eine kreative Entwicklung, es erfährt eine Vertiefung der integralen Harmonie von Herz und Verstand.

Bede Griffiths (1906-1993)