… warum hast du mich verlassen

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Der einzige Teil unserer Seele, der nicht dem Unglück unterworfen werden dürfte, ist derjenige, der in der anderen Welt liegt. Das Unglück hat keine Macht über ihn – denn vielleicht ist er, wie Meister Eckhart sagte, unerschaffen –, aber es hat die Macht, ihn gewaltsam von dem zeitlichen Teil der Seele zu trennen, so dass, obwohl die übernatürliche Liebe in der Seele wohnt, deren Süße nicht gespürt wird. Dann erhebt sich der Schrei: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen.“

Simone Weil (1909 – 1943)

Simone Weil zum „Vaterunser“

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Die unendliche Süße dieses griechischen Textes hat mich so sehr ergriffen, dass ich mich mehrere Tage lang nicht davon abhalten konnte, ihn immer wieder zu wiederholen. In der folgenden Woche begann ich mit der Weinlese. Ich rezitierte jeden Tag vor der Arbeit das Vaterunser auf Griechisch und wiederholte es sehr oft im Weinberg. Seitdem habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, es jeden Morgen einmal mit absoluter Aufmerksamkeit durchzusprechen. …

Manchmal kommt es vor, dass ich es aus purem Vergnügen noch einmal sage, aber ich mache es nur, wenn ich den Impuls wirklich verspüre. Die Wirkung dieser Übung ist außergewöhnlich und überrascht mich jedes Mal aufs Neue, denn obwohl ich sie jeden Tag erlebe, übertrifft sie bei jeder Wiederholung meine Erwartungen. Manchmal reißen die allerersten Worte meine Gedanken aus meinem Körper und transportieren sie an einen Ort außerhalb des Raums, wo es weder Perspektive noch Standpunkt gibt. Die Unendlichkeit der gewöhnlichen Wahrnehmungserweiterungen wird durch eine Unendlichkeit im zweiten oder manchmal dritten Grad ersetzt. Gleichzeitig herrscht Stille, die jeden Teil dieser Unendlichkeit der Unendlichkeit ausfüllt, eine Stille, die keine Abwesenheit von Klang ist, sondern Gegenstand einer positiven Empfindung ist, positiver als die des Klangs. Geräusche, wenn überhaupt welche, erreichen mich erst, nachdem ich diese Stille durchbrochen habe. Manchmal ist Christus auch während dieser Rezitation oder in anderen Momenten persönlich bei mir anwesend, aber seine Gegenwart ist unendlich realer, bewegender, klarer als bei dem ersten Mal, als er von mir Besitz ergriff.

Simone Weil (1909 – 1943) in einem Brief an Pater Perrin

Mehr zu ihr hier von Ronald Steckel: https://www.ardaudiothek.de/episode/das-innere-licht/schwerkraft-und-licht-4-6/rbbkultur/10433357/