… Hält man eine vollkommene soziale Ordnung nur für annähernd erreichbar, so gilt es immer noch, sich dem herrschaftslosen Zustand so weit anzunähern, als dies möglich ist. So dachte Lao Tse, der einen Vers schrieb, den man folgendermassen übersetzt hat:
„Je grösser die Zahl der Gesetze und Verbote,
desto grösser die Zahl der Diebe und Räuber.
Ich tue nichts, und das Volk ordnet sich von selbst.“
Das „Nichts-Tun“ darf bei Lao Tse nicht als passive Haltung verstanden werden. Der Chinese meint dieses Wort ebenso wie der christliche Anarchist Leo Tolstoi als ein durchaus tätiges Nichts-Tun, ein nicht autoritäres, nicht gewalttätiges Tun, ein Tun, als ob man nichts täte. Dieses tätige Nichts-Tun kann man analog zum sokratischen wissenden Nicht-Wissen verstehen. …
Heiner Koechlin (1918 – 1996)