Aufgaben des Pilgers bei der Wallfahrt zu Gott

Foto: (c) wak

Ein Pilger, der lange unterwegs ist, hat neun Aufgaben:

Die erste besteht darin, dass er nach dem Weg fragt.
Die zweite, dass er sich gute Reisegefährten sucht.
Die dritte, dass er sich vor Dieben hütet.
Die vierte, dass er sich vor Unmäßigkeit beim Essen in Acht nimmt.
Die fünfte, dass er seine Kleider schürzt und sich fest gürtet.
Die sechste besteht darin, dass er sich, wenn er bergauf geht, tief vornüberbeugt.
Die siebte, dass er beim Abstieg vom Berg dann aufrecht geht.
Die achte, dass er nach dem Gebet guter Menschen verlangt.
Die neunte, dass er gerne über Gott spricht.

Ebenso verhält es sich auch mit unserer Wallfahrt zu Gott, auf der wir durch vollkommene Taten der Liebe das Reich Gottes zu erreichen suchen und auf seine Gerechtigkeit aus sein sollen…

Hadewijch von Antwerpen (ca.1200 – 1248)

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Wallfahrt nach Kevlaar

Kevelaerer Schluckbild / Foto: (c) wak

Vier gleiche Darstellungen des Kevelaerer Gnadenbildes sind auf diesem Druckbogen zu sehen. Sogenannte Schluckbilder wurden mit dem Kupferstich der Madonna berührt, geweiht, verkauft und von den Pilgernden gegessen. So sollten die Heilkräfte der Muttergottes im Körper der Pilgerinnen und Pilger zur Wirkung kommen.

Siehe auch das berührende Gedicht „Die Wallfahrt nach Kevlaar“ aus dem „Buch der Lieder“ von Heinrich Heine (1797 – 1856)

https://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/BdL/Kevlaar.html

Spricht zu den Menschen deren Ohren geöffnet sind

Die Kaaba / Bild: Archiv

Als Abraham in Aegypten in die Mysterien des Lebens eingeweiht worden war, begab er sich nach Mekka, wo er zur Erinnerung an die in der alten esoterischen Schule Aegyptens empfangene Weihe einen Denkstein setzte. Die Stimme, die Abrahams singende Seele in den Stein legte, tönte weiter fort und wurde allen denen vernehmbar, die sie zu hören vermochten. Seit jener Zeit sind Seher und Propheten zu diesem Stein, zur Kaaba gepilgert; die Stimme tönte weiter und lebt noch heute fort. Ein Ort wie Mekka – eine Wüstenei, die nichts Interessantes bietet, wo der Boden nicht fruchtbar und die Menschen nicht hoch entwickelt sind, wo weder Handel noch Industrie blüht, wo Kunst und Wissenschaft nicht zu finden sind – hat Millionen Menschen angezogen, die ihn nur aus einem einzigen Grund, nur als Ziel ihrer Wallfahrt aufsuchten: Was war die Ursache, was ist heute noch die Ursache? Nur die Stimme, die diesem Ort, die einem Stein eingegeben worden ist. Einem Stein ist die Gabe der Sprache verliehen worden, und er spricht noch heute zu den Menschen, deren Ohren geöffnet sind.

Hazrat Inayat Khan (1882 – 1927) in: Die Sprache des Kosmos. Genf; 1945, S. 7-8

Vallfaren till Kevlaar / 1921…

Filmplakat / Archiv

Vallfarten till Kevlaar (Deutsch: Die Wallfahrt nach Kevlaar) ist ein schwedischer Stummfilm aus dem Jahr 1921, inszeniert von Ivan Hedqvist mit einem Drehbuch von Ragnar Hyltén-Cavallius nach Heinrich Heines Gedicht „Die Wallfahrt nach Kevlaar“ aus dem „Buch der Lieder“ von 1827. Der Film ist einer von jenen, die während der sogenannten Blütezeit des schwedischen Stummfilms (oder „dem Goldalter“ des schwedischen Films) produziert wurden.

In den 1820er Jahren überredet eine Mutter ihren Sohn, der nach dem Tod seiner Geliebten aus lauter Melancholie und Trauer bettlägerig geworden ist, sich einer Wallfahrt von Köln nach Kevelaer zur Gnadenkapelle der Mutter Gottes anzuschließen. Dort opfert der Sohn der Madonna ein Herz aus Wachs und bittet sie, seinen Herzschmerz zu heilen. Als die Nacht hereinbricht, erhebt sich die Madonna von ihrem Altarbild, tritt an das Bett des Sohnes und legt ihre Hand auf sein Herz. Als die Mutter aufwacht, stellt sie fest, dass ihr Sohn in der Nacht gestorben ist, und sie lobt die Madonna für ihre Güte.

Der Film wurde im Herbst 1920 gedreht. Die Studioszenen wurden in Filmstaden in Råsunda bei Stockholm gedreht, während einige Außenaufnahmen vor Ort in Köln und im Rheintal gedreht wurden. Die Szenen mit der Kapelle gehören zu denen, die in Råsunda aufgenommen wurden, wo eine Kulisse der originalen Kevelaerer Gnadenkapelle errichtet worden war.

Mehr Informationen zum Film hier: http://www.svenskfilmdatabas.se/en/item/?type=film&itemid=3516

Gesehen werden kann der Film hier:

https://archive.org/details/vallfarten-till-kevlaar-the-pilgrimage-to-kevlaar-1921-ivan-hedqvist

https://www.netflix.com/de/title/81382202

Der Text kann hier nachgelesen werden: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Wallfahrt_nach_Kevlaar

Pilgernd das Reich Gottes erreichen

 

Foto: © wak

 

Ein Pilger, der lange unterwegs ist, hat neun Aufgaben:

Die erste besteht darin, dass er nach dem Weg fragt.
Die zweite, dass er sich gute Reisegefährten sucht.
Die dritte, dass er sich vor Dieben hütet.
Die vierte, dass er sich vor Unmäßigkeit beim Essen in Acht nimmt.
Die fünfte, dass er seine Kleider schürzt und sich fest gürtet.
Die sechste besteht darin, dass er sich, wenn er bergauf geht, tief vornüberbeugt.
Die siebte, dass er beim Abstieg vom Berg dann aufrecht geht.
Die achte, dass er nach dem Gebet guter Menschen verlangt.
Die neunte, dass er gerne über Gott spricht.

Ebenso verhält es sich auch mit unserer Wallfahrt zu Gott, auf der wir durch vollkommene Taten der Liebe das Reich Gottes zu erreichen suchen und auf seine Gerechtigkeit aus sein sollen…

Hadewijch von Antwerpen (ca.1200 – 1248)

Geh in deinen Grund

Foto :© wak

Da kommen denn viele Leute und erdenken sich mancherlei Wege,
um zu diesem Ziel zu gelangen:
Die einen wollen ein Jahr lang von Wasser und Brot leben,
die anderen eine Wallfahrt machen,
bald dies, bald das.
Ich nenne dir den einfachsten und kürzesten Weg:
Geh in deinen Grund und prüfe, was dich am meisten hindert,
dich am meisten von der Erreichung des Zieles zurück hält;
darauf richte deinen Blick.
Diesen Stein dann wirf in eines Flusses Grund.

Johannes Tauler (um 1300 – 1361

Geh ein in deinen Grund…

Foto: © wak

 

Da kommen denn viele Leute und erdenken sich mancherlei Wege,
um zu diesem Ziel zu gelangen:
Die einen wollen ein Jahr lang von Wasser und Brot leben,
die anderen eine Wallfahrt machen,
bald dies, bald das.
Ich nenne dir den einfachsten und kürzesten Weg:
Geh in deinen Grund und prüfe, was dich am meisten hindert,
dich am meisten von der Erreichung des Zieles zurück hält;
darauf richte deinen Blick.
Diesen Stein dann wirf in eines Flusses Grund.

Johannes Tauler  (* um 1300 – 1361)

Mehr zu Johannes Tauler am 6. Januar im Kölner Mystikkreis: https://mystikaktuell.wordpress.com/2018/12/03/seine-sprache-ist-wie-ein-bergquell-johannes-tauler-im-mystikkreis-am-6-januar-2019/

Die Wallfahrt nach Kevlaar

Schluckbildchen der Kevelaerer Madonna (um 1780)  Foto: © wak

Auf dem Druckbogen sind vier gleiche Darstellungen des Kevelaerer Gnadenbildes zu sehen. Sie wurden mit dem Kupferstich der Madonna berührt, geweiht, verkauft und von den Pilgernden gegessen. So sollten die Heilkräfte der Muttergottes im Körper der Pilgerinnen und Pilger wirken.
Zu sehen sind sie in der Ausstellung „Der geteilte Himmel“ im RuhrMuseum in Essen.

Siehe auch: Heinrich Heine, Die Wallfahrt nach Kevlaar

https://www.staff.uni-mainz.de/pommeren/Gedichte/BdL/Kevlaar.html

Pilgern – Sehnsucht nach Glück?

Foto: © wak

Fremdlinge oder Romwallfahrer nannte man sie, peregrinus oder pelegrinus. Seit dem 2. Jahrhundert pilgerten Menschen zu den Gräbern der frühchristlichen Apostel. Doch zuvor bereisten bereits Griechen und Römer oft weit entfernte Tempel. Bis in die Jetztzeit hat sich das Motiv der Pilgerschaft in vielen Religionen erhalten. Der Weg durch Wald und Feld, in Wüsten und auf Berge hat nicht nur den individuellen Aspekt der Heilung von physischem Leiden und psychischen Nöten. Neben der Sündenvergebung steht auch ein stark sozialer Bezug. Trifft man doch auf dem Weg Menschen, denen man begegnen und mit denen man sich austauschen kann. Und wie kaum anderswo gilt für den Pilger das Wort von Dogen: „Das Ziel und der Weg sind eins“. Dies gilt für die äußere Pilgerschaft ebenso wie für die innere.

„Eine Wallfahrt ist eine traditionelle Reise zum Zweck des Besuches einer bestimmten Pilgerstätte mit religiöser Bedeutung…. Im symbolischen Sinn ist die Pilgerfahrt sowohl eine Initiation als auch ein Akt der Ergebenheit. Sie geht zurück auf den alten Glauben, dass die übernatürlichen Mächte ihre Kraft an bestimmten Orten besonders stark entfalten… Heute werden Wallfahrten gewöhnlich als zeichenhafte Darstellung der Lebensreise aufgefasst. Der Aufenthalt am fremden heiligen Ort öffnet vielen Menschen bisher verschlossene Bereiche ihres Seelenlebens.“ [http://de.wikipedia.org/wiki/Pilgerfahrt] Seit Tausenden von Jahren machen sich Menschen auf den Weg, solche Orte zu besuchen, denen sie besondere Kräfte zuschreiben. Die Motive sind dabei sehr unterschiedlich. Menschen kümmern sich um ihr Heil im Diesseits (und manchmal auch im Jenseits) oder sie wollen für begangenes Unrecht oder Schuld Busse tun. Sie erhoffen ein Wunder oder sie wollen nach erfolgter Heilung o.ä. ein Gelübde erfüllen, das sie in kranken Tagen gesprochen haben. Oder sie wollen einfach dafür danken, dass sie aus einer Not gerettet, von einer Krankheit befreit wurden. Das gemeinsame innere wie äußere Ziel der Pilger schafft dabei eine gemeinsame Aus-Richtung.

 

Der Aufbruch ist schon ein Risiko

„Wenn Sie eine Pilgerfahrt unternehmen, riskieren Sie etwas. Sie lassen sich nicht nur auf einige körperliche Beschwernisse ein. Sie riskieren, dass Sie nicht als derselbe Mensch zurückkehren, der losgegangen war. Es besteht aber auch eine zweite Gefahr: Das Risiko, dass sie von großer Freude überrascht werden. Dass Sie, wenn Sie sich physisch und metaphysisch auf die Pilgerreise begeben, Menschen begegnen, Orte kennen lernen, Gedanken, Gefühle, Visionen und Ereignisse erleben, die Sie weit über das hinaus führen, was Sie sich bis jetzt vorgestellt haben.“ So fasst Martin Palmer, Direktor der Internationalen Beratungsstelle über Religion, Erziehung und Kultur in Manchester, zusammen, was Pilgerschaft heute bedeuten kann. Die britische Autorin Jennifer Westwood nennt von Vorbereitung über Aufbruch, Abenteuer und Hindernisse, Zweifel und Hoffnung, Annäherung und Vorfreude, Ankunft: Ergriffenheit und Öffnung, Heimkommen jene Kategorien, die es im Umgang mit und Fortschreiten auf heiligen Pfaden zu bedenken gilt.

 

Ein konkretes Beispiel: Der Jakobsweg

Vom inneren Wandel, den Spuren der Transformation, zu denen sie sich begeben, muss man wohl sprechen, wenn man die Motive der Pilgerschaft ernst nehmen will, wenn sich Menschen auf den Weg machen. Wohl kaum ein Pilgerweg in Europa ist so von Mühen geprägt, wie es der Jakobsweg ist, auf dessen Spuren bereits Millionen Menschen pilgerten. So unterschiedliche Menschen wie Paolo Coelho und Hape Kerkelink gehörten ebenso zu ihnen wie Shirley McLaine oder Cees Noteboom. Religiöse Erfahrungen können und wollen sie hier machen. Ganz direkte und sinnliche religiöse Erfahrungen sind hier den entleerten und von der Lebenspraxis vieler Menschen abgehobenen oder inzwischen auch völlig unverständlich gewordenen Lehren und Ritualen traditioneller Glaubensgemeinschaften entgegenzusetzen. Dazu gehört beispielsweise die Erfahrung der Verbundenheit, des „sich eins fühlen“ mit Schöpfung, Kosmos, Gott. Nicht von ungefähr wird Pilgern ja auch als ein Beten mit den Füssen und dem Körper bezeichnet. Und dazu gehört auch die Erfahrung, dass ich der Körper, der Geist und die Seele bin, dass ich sie nicht habe. Der Jakobsweg führt die Pilger zwar eigentlich nach Santiago an das Grab des Apostels Jakobus. Viele Pilger gehen ihn aber noch weiter nach Finisterre am Atlantik, ein Ort der „Ende der Welt“ heißt und mit dem „Cap Finisterre“ die Begrenzung der ehemals bekannten Welt darstellte. Und nicht von ungefähr ist das Meer ja auch ein Symbol für die Wiedergeburt des Menschen, die vom Pilger angestrebt werden kann.

 

Menschen wollen sich neu ver-orten

„Ist es möglich, dass manche Orte an sich heilig sind, gleich, was sie Menschen bedeuten mögen? Manche Kulturen gehen davon aus. Pilgerorte sind oft Plätze von besonderer Naturschönheit. Dabei spielt vermutlich weniger die Bewunderung für ein Meisterwerk der Schöpferkraft eine Rolle als die menschliche Neigung, in bestimmten geographischen Merkmalen bestimmte Symbole zu sehen. Manche Orte, besonders Berge, Höhlen, Flüsse und Quellen, sind von alters her als Wohnstätten von Göttern betrachtet worden oder als Orte, an denen sich die Welt der Götter und die der Menschen treffen.“ Jennifer Westwood geht noch darüber hinaus, wenn sie sagt: „Der heilige Ort ist ein Teil der Sehnsucht“.

 

Ein Beispiel: der Kailash

Doch nicht nur die Mühsal der Ebenen ist es, die den Pilger auf seinem Weg plagen können. Auch das Motiv des inneren wie äußeren Aufstiegs kehrt in vielen Religionen wieder. Schon im elften Jahrhundert findet sich die Tradition, Berge zu umrunden. Und lange wird der Kailash als etwas gesehen, was mit dem Wort „Weltenberg“, „Meru“ oder „Nabel der Welt“ umschrieben wird. Der Kailash ist übrigens jener heilige Berg, der von Hinduisten und Buddhisten ebenso verehrt wird wie von Anhängern der Bön-Religion. Bereits der Blick auf den Kailash soll genügen, um das Potenzial der eigenen Erleuchtung zu stärken. Buddhisten gehen her und umkreisen den Kailash im Uhrzeigersinn und sie rezitieren dabei das Mantra „Om Mani Padme Hum“. Sind dies doch die heiligen Ursilben der Lebewesen der sechs Welten. Unzählige Mani-Steine flankieren daher die Wege und Pfade, die zu den heiligen Stätten führen. Sie sprechen den Wunsch aus, dass sich das Heiligste auch auf der Erde manifestieren und realisieren möge. Und jede dieser Aktionen und alles Tun auf dem Pilgerweg sollen für das Wohlergehen aller Lebewesen beitragen. Erwarten viele der Pilger doch nicht nur ein besseres Schicksal im Leben, Gesundheit und Reichtum, sondern auch eine gute Wiedergeburt. „Es gibt Berge, die bloß Berge sind, und es gibt solche, die Persönlichkeit aufweisen. Die Persönlichkeit eines Berges hängt nicht von dessen seltsamer Formgebung ab, die ihn von anderen Bergen unterscheidet genauso wenig wie ein wunderlich geschnittenes Gesicht oder ungewohnte Taten aus einem Individuum noch keine Persönlichkeit machen. Persönlichkeit besteht in der Kraft, andere zu beeinflussen, und diese Kraft ist der Konsequenz, Harmonie und Zielstrebigkeit des Charakters zuzuschreiben. Ein Mensch, der diese Eigenschaften in höchster Perfektion in sich vereint, wird zum geeigneten Führer der Menschheit, mag er Herrscher, Denker oder Heiliger sein, und wir würdigen ihn als ein Gefäß überirdischer Kraft. Falls diese Eigenschaften einem Berg innewohnen, wird er für uns zu einem Gefäß kosmischer Kraft, und wir bezeichnen ihn als heiligen Berg. Die Kraft eines solchen Berges ist so groß und doch so subtil, dass sich Pilger von nah und fern unwiderstehlich von ihm angezogen fühlen, wie von der Macht des unsichtbaren Magneten; und in ihrem unerklärlichen Drang, sich diesem heiligen Ort zu nähern und ihn zu würdigen, erdulden sie unsagbare Mühsal und Entbehrung. Niemand hat einem solchen Berg den Titel der Heiligkeit verliehen; der Berg wird Kraft seiner eigenen magnetischen und psychischen Ausstrahlung intuitiv als geheiligt anerkannt.“ In seinem Buch „Der Berg der weißen Wolken“ hat der aus Sachsen stammende Lama Anagarika Govinda (1898 – 1985) dem Kailash ein Denkmal gesetzt, der 6.714 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Das „Schneejuwel“ vermittelt „schöpferische Impulse, er ist die Quelle der Kraft & Inspiration. Dieses geographische Zentrum auf dem höchstgelegensten Hochplateau der Erde, mit einer Schneegrenze zwischen 5-6000 Metern, ist zugleich das Quellgebiet vier großer, mächtiger Ströme: Ganges, Indus, Sutley und Brahmaputra.“ Über die geographische Sicht eines Weltenberges geht die Bedeutung des Meru für den Schweizer Journalisten Ron Giger jedoch weit hinaus: „Unser psycho-physischer Organismus ist ein mikrokosmisches Abbild des Universums. Meru entspricht unserer Wirbelsäule, bzw. dem Rückenmark unseres Nervensystems, Meru ist also die Achse der verschiedenen überweltlichen Bereiche. Sitz Shivas für die Hindus, ist er ein überdimensionales Mandala von Buddhas und Bodhisattvas für Buddhisten.“

 

Einheit von Geben und Nehmen

Die britische Autorin Jennifer Westwood sieht deutlich, dass es sich beim Pilgern nicht nur um eine individuelle Dimension von heilender Wegstrecke handelt, sondern sie verweist auch auf den sozialen Bezug, der damit verbunden ist: „Im Grunde suchen alle Pilger nach einem Zugang über einen bedeutsamen Ort zu einem spirituellen Reservoir, das in der Vergangenheit gefüllt wurde und sich ständig erneuert. Denn der Pilger nimmt nicht nur, sondern er gibt auch. Er nimmt spirituelle Nahrung auf und gleichzeitig, durch seinen Glaubensakt der Wallfahrt an einen bestimmten Ort, erneuert er die niemals versiegende Quelle dort.Ein Pilger zu sein bedeutet nicht, einen individuellen Akt der Hingabe durchzuführen, sondern sich am Dialog der Menschheit mit der Gottheit zu beteiligen: nicht zeitgebunden, sondern ewig.“

 

Von innerster Pilgerschaft

Swami Kriyananda, Schüler von Paramhansa Yogananda (1893– 1952) weist noch auf ganz andere Aspekte hin, die es bei der Beschäftigung mit dem Motiv der Pilgerschaft zu bedenken gilt. „Pilgerreisen zu heiligen Schreinen sind Symbole für die innere, spirituelle Suche. Für ein Symbol aber scheint dieser eine Aspekt zu fehlen: Bewegung. Und trotzdem gibt es definitiv Bewegung in der Meditation. Die Bewegung ist nicht äußerlich. Sie findet innerhalb des Körpers statt. Eine solche Pilgerreise führt uns durch die Wirbelsäule. Die Wirbelsäule ist auch physisch der Weg, auf dem die Energie zwischen Gehirn und Körper fließt. Sie ist ein subtiler Durchgang für den Fluss der Lebensenergie. Der menschliche Wille sendet sowohl bewusst als auch unbewusst Energie durch die Nerven der Wirbelsäule in den Körper, und verursacht auf diese Weise Bewegung, Spannung, ja sogar den Atem. Je größer die spirituelle Verwirklichung, desto klarer erkennen wir, dass das Meistern dieser Energie uns die Kontrolle über alles im Universum gibt… Es gibt also wirklich eine innere Pilgerreise. Sie ist Bewegung, nichtstatisch. Erst am Ende der Reise erreichen wir absolute Stille. Diese Reise ist jedoch subtil…Die nach oben gerichtete Reise der Energie und des Bewusstseins in der Wirbelsäule endet in der vollkommenen Stille der Selbstverwirklichung.“ Wer pilgert, bricht auf, und nur, wer sich aufmacht, kann auch ankommen. Das Bild der inneren wie äußeren Pilgerschaft ist in Zeiten von Zeit-losigkeiten und Sinnverlusten wie ein Mahnmal, die Perspektiven zu wechseln und den Blick neu auszurichten. Und nicht nur den Blick…

© Werner Anahata Krebber

 

Pilgerorte der Weltreligionen

(kleine Auswahl in alphabetischer Reihenfolge)

Buddhismus

Ajanta, Borobodur, Ellora, Kailash, Lhasa, Shikoku, Yangon

 

Christentum

Aachen, Altötting, Canterbury, Echternach, Einsiedeln, Fatima, Guadelupe, Jerusalem Kevelaer, Köln, Kornelimünster, Lalibela, Lourdes, Medjugorje, Neviges, Rom, Santiago de Compostela, Tschenstochau,

 

Hinduismus

Ajmer, Amritsa, Kailash, Varanasi

 

Islam

Ghom, Jenné, Jerusalem, Kerbela, Mekka, Medina, Touba

 

Judentum:

Jerusalem

 

 

Literatur in Auswahl:

De Lauwer, Christ / Patrick J. Lennon (Hg.) Sacred Places. Pilgrimages in Judaism, Christianity and Islam. 2014

Govinda, Lama Anagarika: Der Weg der weißen Wolken, Scherz-Verlag 1991;

Pilgern. Sehnsucht nach Glück? Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln 2016

Westwood, Jennifer: Pilgerreisen – Wege zum Selbst. Urania-Verlag Neuhausen/Schweiz, 2002;

 

Weitere Texte zu Mystik und Spiritualität finden sich hier:

https://mystikaktuell.wordpress.com/auf-einen-blick-spirituelle-anregungen-von-werner-a-krebber/