O du heiliges Tal und absolute Existenz – wie sehr auch der lautere Grund der Stufe Deiner Absolutheit das Gestrüpp der zusätzlichen Zuschreibungen von sich gefegt hat und im eigenen Auge von all diesen begrenzten Beziehungen frei ist, so schlägt doch das gesamte Wanderdünenland der imaginären Kontingenzen auch in dieser Weite Wellen und fesselt den Fuß jedes Wesens mit der Kette der Individualisierung.
Jede Religion entspringt einem Gipfelerlebnis. Dies gilt für ihr innerstes Wesen, aber auch für ihre Entstehung und Entfaltung in der Geschichte. Lehre, Ethik und Ritual, drei Säulen jeder religiösen Tradition, lassen sich auf das mystische Erlebnis zurückführen. Die Lehre ist letztlich der Versuch, seinen Inhalt verstandesmässig zu deuten; die Ethik gibt Anweisungen, wie die beglückende Allzugehörigkeit, die wir auf dem Gipfel erleben, auch im Tal des Alltags willig verwirklicht werden kann; im Ritual feiert die Religion den Gefühlsgehalt mystischer Erfahrung und erreicht ihn sogar in ihren geglücktesten Formen. In Gemüt, Willen und Verstand, entfaltet sich also die Mystik geistig und leiblich in jeder Religion – will sich zumindest so verwirklichen.
David Steindl-Rast in seinem Vorwort zu Abraham H. Maslow: Jeder Mensch ist ein Mystiker. Wuppertal 2014, S. 10
Sei gegrüßt, o Königin,
Mutter der Barmherzigkeit;
unser Leben, unsere Wonne und unsere Hoffnung sei gegrüßt!
Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas;
Zu dir seufzen wir
trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.
Wohlan denn, unsere Fürsprecherin,
wende deine barmherzigen Augen uns zu
und nach diesem Elend zeige uns Jesus,
die gebenedeite Frucht deines Leibes!
O gütige,
o milde,
o süße Jungfrau Maria.
Seit dem 12. Jahrhundert singen Mönche von Citeaux ausgehend dieses „Salve Regina“. Citeaux ist das „Mutterkloster“ aller Zisterzienser.
Im Hochgebirg vor seiner Höhle
Saß der Asket;
Nur noch ein Rest von Leib und Seele
Infolge äußerster Diät.
Demütig ihm zu Füßen kniet
Ein Jüngling, der sich längst bemüht,
Des strengen Büßers strenge Lehren
Nachdenklich prüfend anzuhören.
Grad schließt der Klausner den Sermon
Und spricht: Bekehre dich, mein Sohn.
Verlaß das böse Weltgetriebe.
Vor allem unterlaß die Liebe,
Denn grade sie erweckt aufs neue
Das Leben und mit ihm die Reue.
Da schau mich an. Ich bin so leicht,
Fast hab ich schon das Nichts erreicht,
Und bald verschwind ich in das reine
Zeit-, raum- und traumlos Allundeine.
Als so der Meister in Ekstase,
Sticht ihn ein Bienchen in die Nase.
Oh, welch ein Schrei!
Und dann das Mienenspiel dabei.
Der Jüngling stutzt und ruft: Was seh ich?
Wer solchermaßen leidensfähig,
Wer so gefühlvoll und empfindlich,
Der, fürcht ich, lebt noch viel zu gründlich
Und stirbt noch nicht zum letzten Mal.
Mit diesem kühlen Wort empfahl
Der Jüngling sich und stieg hernieder
Ins tiefe Tal und kam nicht wieder.
Wilhelm Busch (1832–1908) in: Sämtliche Werke, Herausgegeben v. Otto Nöldeke, Band 6, München 1943, S. 321-322
Ich behaupte, dass die Wahrheit ein pfadloses Land ist, und Sie können sich ihr auf keinem Pfad nähern, durch keine Religion, durch keine Sekte. Das ist meine Ansicht, an der ich absolut und bedingungslos festhalte.
Die Wahrheit, die grenzenlos, unbedingt, unnahbar ist, auf welchem Pfad auch immer, kann nicht organisiert werden; auch sollte keine Organisation gebildet den, um Menschen auf einen besonderen Pfad zu führen oder zu nötigen. Wenn Sie das als erstes verstehen, dann werden Sie sehen, wie unmöglich es ist, einen Glauben zu organisieren. Glaube ist eine rein individuelle Angelegenheit, und Sie können und dürfen ihn nicht organisieren. Wenn Sie es tun, dann stirbt er, erstarrt er; er wird zur Konfession, zu einer Sekte, einer Religion, die anderen aufgenötigt wird.
Das ist es aber, was überall auf der Welt jeder zu tun versucht. Die Wahrheit wird geschmälert und zum Spielzeug für die Schwachen, für diejenigen, die nur einen Augenblick unzufrieden sind.
Die Wahrheit kann nicht heruntergeholt werden; vielmehr muss der einzelne sich die Mühe machen, zu ihr hinaufzusteigen. Sie können den Gipfel des Berges nicht ins Tal herunterholen. Wenn Sie den Gipfel des Berges erreichen wollen, müssen Sie das Tal durchqueren und die steilen Felsen hinaufklettern, ohne sich vor den gefährlichen Klippen zu fürchten.