In der Wirklichkeit des Absoluten leben

Mystisches Bewusstsein trägt uns in die unendliche Weite des Überbewusstseins in die Bereiche des Göttlichen, wo wir frei von unseren menschlichen Begrenzungen, aber völlig vom Göttlichen abhängig sind, um unsere unfassbare Wirklichkeit und Wahrheit erfahren zu können. Der Mystsiker oder kontemplative Seher ist ein Mensch, der, unabhängig von seiner Ursprungstradition, in der Präsenz des Überbewusstseins lebt. Er lebt in der Wirklichkeit des Absoluten, im göttlichen Mysterium, aber er hat auch alle anderen Bewusstseinsebenen (Bewusstsein, Selbstgewahrsein, Unbewusstes und Überbewusstes) in der Tiefe seines Wesens integriert.

Wayne Teasdale (1945 – 2004) in: Das mystische Herz. Spirituelle Brücken bauen. Aurum, o.O. 2004, S. 112

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Das offene Herz der Mystik in uns lebendig werden lassen

Foto: © wak

Von der „Stätte der Lebenskraft“ erzählt Ramana Maharshi einem seiner Schüler. Gelesen hat Ramana davon in der lange verschollenen „Quintessenz der achtgliedrigen Wissenschaft“. Dieses alte Ayurveda-Kompendium sieht das Herz als „Stätte des Bewusstseins, des sich selber gewahr seins.“ Und Maharshi ist davon überzeugt: „Das Selbst ist das Herz selber. Das Selbst ist die Stätte und Mitte selber. Es ist immerdar seiner selbst inne als ‚Herz’.“ Was aber hat es mit dem Herzen für uns auf sich? Vor allem zwei Traditionen werden daraufhin genauer befragt: das buddhistische Herz-Sutra und das ostkirchliche Herzensgebet. Und gefragt wird auch danach, wie Leben, wie das Selbst, verherzt werden und bleiben kann.

„Wir leben in einer Kultur, die blind für das spirituelle Leben ist. Sie ist spirituell ignorant, moralisch verwirrt, psychisch gestört und süchtig nach Gewalt, Unterhaltung und Konsum.“ So beschreibt Wayne Teasdale, Vorstandsmitglied des Parlaments der Weltreligionen, ein kollektives System, das in weiten Teilen Herz-los geworden ist. Es gilt daher – auch jetzt, ganz aktuell, sich zu erinnern…

Das Herz ist der Sitz des Lebens
In der Geschichte der unterschiedlichen Versuche von Seins-Erklärungen wird das Herz seit langem als der Sitz der Seele gesehen. Es wird als Sitz des Lebens bezeichnet, aber auch als der Ort des Denk- und Gedächtnisvermögens. „Die Nabelschnur des Seienden im Nichtseienden fanden die Dichter heraus, in ihrem Herz forschend“, heißt es in der altindischen Rigveda. Vedische Tradition sieht die geistige Kraft in das Herz des Menschen gesenkt. Nur ein kurzer Weg ist es zur Tradition der Upanishaden mit ihrer engen Verbindung von Herz und Geist: „Durch das Herz erkennt man die Wahrheit.“ Und hier ist bereits die Brücke zum Buddhismus geschlagen, wenn dort die fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) „das Herz zum Hort haben“. Im Herzen, so heißt es, kann der Meditierende der anderen Personen Herzen schauen und erkennen, wenn er das Gemüt auf die Erkenntnis der Herzen richtet. Worum geht es nun aber beim Herz-Sutra genau? Lassen wir uns zunächst einmal auf seinen Text ein, der ein Herz-Stück buddhistischer Tradition beschreibt, in dem wir das Wort „Herz“ selbst gar nicht finden werden:

Bodhisattva Avalokiteshvara, in der Übung der tiefen transzendenten Weisheit erkannte, dass alle fünf Skandas  leer sind und überwand so alles Leiden. Shariputra , Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist wirklich Leere, Leere wirklich Form. Das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und unterscheidendes Denken. Shariputra, die Formen aller Dinge sind leer, sie entstehen nicht und vergehen nicht, sie sind nicht rein und nicht unrein, nehmen nicht zu und nicht ab. Daher ist in der Leere keine Form, weder Empfindung, Wahrnehmung, Wollen oder unterscheidendes Denken, weder Auge, Ohr, Nase, Zunge oder Körper, weder Farbe, Ton, Duft oder Geschmack, weder Berührbares noch Vorstellung, weder ein Bereich der Sinnesorgane noch ein Bereich des Daseins, weder Unwissenheit noch ein Ende von Unwissenheit. Und so gibt es weder Alter noch Tod, noch ein Ende von Alter und Tod, weder Leiden noch Entstehen von Leiden, kein Anhäufen, Vernichten, keinen Weg, weder Erkennen noch Erreichen, weil es nichts zu erreichen gibt. Ein Bodhisattva lebt aus dieser Weisheit ohne Hindernis im Geist, ohne Hindernis und daher ohne Furcht. Jenseits aller Illusionen ist endlich Nirvana. Alle Buddhas der Vergangenheit leben aus dieser transzendenten Weisheit, erreichen die höchste Erleuchtung vollkommen und unübertroffen. Wisse daher, dass die transzendente Weisheit das große heilige Mantra ist, das große strahlende Mantra, das unübertroffene Mantra, das alle Leiden nimmt. Das ist wahr und ohne Fehl. Das ist das Mantra, verkündet in der transzendenten Weisheit. Es lautet:

GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SWAHA.

 

Täglich, so wird berichtet, rezitieren Zen-Mönche dieses Gate, gate, paragate, paramsagate bodhi swaha“, das für sie bedeutet:

„Gegangen, gegangen, über alles hinaus, über alles ganz und gar hinausgegangen“.

Oder wie es in einer der anderen Übersetzungen heißt:

„Gegangen, gegangen, den ganzen Weg hinübergegangen, alle hinübergegangen zum anderen Ufer, Erleuchtung, Lobpreis.“

Foto: © wak

Und was heißt das für uns ganz konkret? Im Herz-Schlag des Gewahr-Seins findet der Mensch jenen Ort, der sein Selbst wirklich ausmacht. Für den amerikanischen Zen-Meister Bernard Glassman beschreitet das Herz-Sutra jenen Weg, die Wirklichkeit über die Vielfalt der Realität, den Reichtum an Phänomenen und Unterscheidungen zu beschreiben. Und er verdeutlicht dies an dem Beispiel des „Zauberer von Oz“, in dem die Protagonistin Dorothy auf den gelben Ziegelsteinweg geschickt wird. „Diesen gelben Ziegelsteinweg gibt es jedoch nicht! Wir sind bereits auf ihm. Wo immer wir sind, befindet sich der gelbe Ziegelsteinweg. Auf diesem Weg gibt es kein Innen und kein Außen. Alles ist dieser Weg; wir alle sind auf dem Weg. Wohin? Er führt nirgendwo hin! Er ist der Herzschlag des Lebens in alle Richtungen.“ Und deshalb sagt er auch: „Wenn wir annehmen, wir praktizierten, um den Weg zu realisieren, begreifen wir nicht, worum es geht, denn dann gehen wir davon aus, dass wir durch Praxis etwas erreichen werden…. Nach der gleichen Logik denken wir, dass wir am Leben bleiben, weil wir atmen, als ob das Atmen unser Lebendig sein verursachen würde. Nein, beides findet gleichzeitig statt. Beides steht in keinem linearen Verhältnis, Ursache und Wirkung sind eins.“

In entscheidender Weise kommt es also für denjenigen, der das Herz-Sutra und das Mantra „Gate, gate…“ rezitiert darauf an, sich immer wieder neu zu vergegenwärtigen. Denn der Schlag des Herzens macht deutlich, wie lebendig wir sind. Und wie sieht es in der westlichen Tradition aus?

Franz-Xaver Jans-Scheidegger, der Theologe, Psychologe und Psychotherapeut im Haus „Via Cordis“ in Flüeli-Ranft weiß von den verschiedenen Wegen kontemplativer Spiritualität. Er schlägt eine Brücke von der östlichen zur westlichen Tradition, wenn er auf die Parallelen zum Herzensgebet hinweist. „Diese Art der Versenkungs-Meditation finden wir neben dem Mantra-Yoga auch im nama-japa (Murmeln des Gottesnamens) der Hindus, im dhikr der Sufis oder im Amida-Zen-Buddhismus. In der Verbindung von Wort (Laut, Klang), Rhythmus (Atem, Herzschlag) und Haltung tritt der Mensch bewusst in Resonanz mit den harmonikalen Strukturen der Schöpfungsordnung. Es findet dabei ein gegenseitiges Empfangen und Weiterschenken statt; und zwar im Herzen. Das Herz ist die eigentliche Person-Mitte des Menschen. In ihr fühlt er sich geeint und rückgebunden in das Mysterium des göttlichen Lebens.“

„Herz“ als Synonym für „Seele“
Bereits in der Theologie des Neuen Testamentes wird deutlich, dass es im Kontakt des Menschen zu Gott nicht um die Formulierung von Worten geht, die lediglich reine Lippen-Bekenntnisse bleiben. Im Herzen wird wirkliche Liebe sichtbar, wenn Paulus zum Beispiel im ersten Brief an die junge Gemeinde in Ephesus schreibt: „Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid…“ (1. Epheser 18).
Das Zentrum des Menschen, das Herz, hat in der jüdischen wie christlichen Tradition einen hohen Rang. Beim Herzensgebet geht es daher um das Wahrnehmen jener göttlichen Wirklichkeit in der Wesensmitte des Menschen, jener Wirklichkeit, die im Raum des Herzens verinnerlicht wird. Die Ursprünge dieses spirituellen Weges liegen für Christen im Neuen Testament, und zwar vor allem in jenen Stoßgebeten, die Menschen an Jesus richten, wenn es zum Beispiel heißt: „Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit uns“ (Matthäus 20,31) oder „Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns“ (Lukas 17,13). Es sind aber auch so knappe Sätze wie „Mein Jesus, Barmherzigkeit!“ oder „Jesus Christus, erbarme Dich meiner!“, die diesem Gebet Ausdruck verleihen.

Wie aber sieht die konkrete Praxis solcher Stoßgebete aus? Der spirituelle Autor Peter Dyckhoff nennt vor allem jene Punkte, die den inneren Prozess des kosmisch ausgerichteten Gebetes beschreiben:

•    sich sammeln,
•    Schließen der Augen;
•    Öffnen der „Augen der Seele“,
•    Loslassen von allen irdischen Abhängigkeiten,
•    Aufgeben aller konkreten Vorstellungen,
•    jegliche Anspannung abgeben,
•    Gedankenaktivität einstellen,
•    keine Worte machen,
•    die Führung des Geistes Gott überlassen,
•    Zustand tiefer Ruhe – alle Relationen sind aufgehoben,
•    die Seele trennt sich von ihrem belastenden Teil,
•    Vergeistigung der Seele,
•    die Seele erkennt das Bild Gottes,
•    Dasein vor Gott.

Ein Prozess, dessen Tiefe nicht ohne Folgen bleibt für den Übenden. Denn er wird immer mehr zu sich finden können. Der Theologe Emmanuel Jungclaussen mahnt jedoch auch: „Bei aller praktischen Übung ist jedoch zu bedenken, dass die Bitte um das Erbarmen des Herrn der Weg einer bedingungslosen Hingabe ist; denn nur Er weiß wirklich, wessen ich bedarf, um Ihm ganz zu gehören. Dieses Erbarmen kann daher unter Umständen einen äußerst schmerzlichen Läuterungsprozess mit sich bringen. ‚Herr Jesus Christus – erbarme Dich meiner’, das bedeutet: ‚Nimm mich, wie ich bin, und mach mich so, wie Du mich haben willst.’“ Nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als zwei verschiedene Weisen des Weges zum Selbst-Gewahrsein sind Herz-Sutra und Herzensgebet zu sehen. Zwei Wege, deren Kern die Einung, die „unio mystica“ des Menschen ist. Nicht von ungefähr werden in der Psychologie diese Wege als gleichrangig angesehen.

Foto: © wak

Wege zur Einheit
Auf die Wirkung der Zen-Meditation wie auf das Herzensgebet weist der Psychologe Maximilian Rieländer von der Sektion Gesundheitspsychologie des Bundesverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen hin. „In einem gestuften Übungsprozess kann man lernen, sich simultan auf mehrere Elemente meditativ zu konzentrieren, so wie sich z.B. ein Musiker auf ein mehrstimmiges Lied konzentriert. In einer Meditation ist das Üben einer kombinierten Körper-Geist-Konzentration sinnvoll, d.h. einer simultanen Konzentration auf ein körperliches Erleben wie Haltung, Atmung, Herzbewegungen, -schläge, sowie auf einen durch ein Wort oder einen Satz ausgedrückten geistigen Inhalt. Meditation kann sich positiv auf den persönlichen Lebensstil auswirken, wenn sie regelmäßig geübt wird, möglichst täglich mit einer Dauer von etwa 20 – 30 Minuten.“ Doch darum allein, so weiß der Psychologe, kann es sicher nicht gehen. So weist dann auch ein Merkblatt der Psychologischen Fachgruppe Entspannungsverfahren darauf hin: „Meditation dient nicht so sehr der Entspannung, sondern vielmehr dem allgemeinen Ziel der Vervollkommnung der Person; Begriffe wie ‚Erleuchtung‘ oder ‚Erlösung‘ und ‚Nirvana‘ machen auf diese religiöse, spirituelle und / oder transzendente Ausrichtung der Übungswege aufmerksam, und sie weisen somit über das Denken im Diesseits hinaus“.

 

 

 

 

 

Analytische Klugheit und erfahrbare Empathie
Der Weg des Herz-Sutras und der Weg des Herzensgebetes, ja alle Weisen, das Herz in unser spirituelles Leben mit einzubeziehen,  sind Herausforderungen an uns. Beide verlangen analytische Klugheit ebenso, wie sie zu erfahrbarer Empathie führen. Damit sind sie Wege, die uns immer wieder mahnen, uns zu erinnern. Und die uns ermöglichen, das offene Herz der Mystik in uns lebendiger werden zu lassen. Ganz so, wie es Bruder Wayne Teasdale vom Parlament der Weltreligionen formuliert hat – in tiefer Kenntnis davon, das Leben zu verherzen: „Das mystische Herz spiegelt in seiner Reife die wesentlichen Elemente und Gaben und die Genialität aller Traditionen der spirituellen Weisheit wider: eine verwirklichte moralische Kapazität, Solidarität mit allen lebenden Wesen, absolute Gewaltlosigkeit, Demut, spirituelle Praxis, reife Selbsterkenntnis, eine einfache Lebensweise, selbstloses Dienen und mitfühlendes Handeln und die prophetische Stimme. Diese Elemente werden weiter verfeinert durch eine Reihe von Fähigkeiten, die auf der inneren Reise erworben werden: Offenheit, Präsenz, Zuhören, Sein, Sehen, Spontaneität und Freude.“

Werner Anahata Krebber

Literatur
Glasman, Bernard: Das Herz der Vollendung. Unterweisungen eines westlichen Zen-Meisters. Theseus-Verlag. o.O. 2003;
Dyckhoff, Peter: Einfach beten. Don Bosco-Verlag. München 2001;
Jungclaussen, Emmanuel (Hg.): Das Jesusgebet – Anleitung zur Anrufung des Namens Jesus von einem Mönch der Ostkirche. Friedrich Pustet-Verlag. Regensburg 61994;
Krebber, Werner: Worte, die das Herz öffnen. Vorboten und Wegweiser zur Heilung. In: Connection special 72 „Aufbruch in den Religionen”, Niedertaufkirchen 2004;
Krebber, Werner: Worte, die heilen können. Bibliotherapien aus buddhistischem Geist. In: Connection special 70 „Buddhismus und Psychotherapie“, Niedertaufkirchen 2004;
Rieländer, Maximilian: Meditation, Herzensmeditation, Herzensgebet – Zur Einführung und Einübung. Seeheim 1993 (Selbstverlag);
Teasdale, Wayne: Das mystische Herz. Spirituelle Brücken bauen. Aurum im J. Kamphausen-Verlag. Bielefeld 2004;
Zimmer, Heinrich: Der Weg zum Selbst. Lehre und Leben des Shri Ramana Maharshi.
Hugendubel-Verlag. Kreuzlingen/München 2001 (Diederichs Gelbe Reihe)

 

Sichtweise der Mystiker

Sehen mit dem Dritten Auge ist die Sichtweise der Mystiker. Sie lehnen das Erste Auge nicht ab. Die sinnlichen Wahrnehmungen bedeuten ihnen etwas. Aber sie wissen, es gibt mehr. Sie lehnen auch das Zweite Auge nicht ab. Aber sie verwechseln Wissen nicht mit Tiefe und bloße korrekte Information nicht mit der Transformation des Bewusstseins selbst. Der mystische Blick baut auf das Erste und Zweite Auge auf – aber er reicht weiter. Er ereignet sich immer dann, wenn aufgrund eines wunderbaren „Zufalls“ der Raum unseres Herzens, der Raum unseres Verstandes sowie unsere Körperwahrnehmung gleichzeitig geöffnet und nicht-resistens sind. Ich nenne dies gern Präsenz. Präsenz wird als ein Moment tiefer innerer Verbundenheit erfahren und sie zieht uns unweigerlich in das nackte und ungeschützte Hier und Jetzt hinein.

Richard Rohr (*1943) in: Pure Präsenz. Sehen lernen wie die Mystiker. München, 2010

Das Selbst ist das Herz selber, Stätte und Mitte

Von der „Stätte der Lebenskraft“ erzählt Ramana Maharshi einem seiner Schüler. Gelesen hat Ramana davon in der lange verschollenen „Quintessenz der achtgliedrigen Wissenschaft“. Dieses Ayurveda-Kompendium sieht das Herz als „Stätte des Bewusstseins, des sich selber gewahr seins.“ Und Maharshi ist davon überzeugt: „Das Selbst ist das Herz selber. Das Selbst ist die Stätte und Mitte selber. Es ist immerdar seiner selbst inne als ‚Herz’.“ Was aber hat es mit dem Herzen für uns auf sich? Zwei Traditionen werden daraufhin genauer befragt: das buddhistische Herz-Sutra und das ostkirchliche Herzensgebet. Und befragt wird damit auch, wie Leben, wie das Selbst, verherzt werden kann.

 

herzbuddhajesusFoto: privat

„Wir leben in einer Kultur, die blind für das spirituelle Leben ist. Sie ist spirituell ignorant, moralisch verwirrt, psychisch gestört und süchtig nach Gewalt, Unterhaltung und Konsum.“ Wayne Teasdale, Vorstandsmitglied des Parlaments der Weltreligionen, weist auf ein kollektives System hin, das in weiten Teilen Herz-los geworden ist. Es gilt daher, sich zu erinnern…

Das Herz ist der Sitz des Lebens
In der Geschichte der unterschiedlichen Versuche von Seins-Erklärungen wird das Herz seit langem als der Sitz der Seele gesehen. Es wird als Sitz des Lebens bezeichnet, aber auch als der Ort des Denk- und Gedächtnisvermögens. „Die Nabelschnur des Seienden im Nichtseienden fanden die Dichter heraus, in ihrem Herz forschend“, heißt es in der altindischen Rigveda. Vedische Tradition sieht die geistige Kraft in das Herz des Menschen gesenkt. Nur ein kurzer Weg ist es zur Tradition der Upanishaden mit ihrer engen Verbindung von Herz und Geist: „Durch das Herz erkennt man die Wahrheit.“ Und hier ist bereits die Brücke zum Buddhismus geschlagen, wenn dort die fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) „das Herz zum Hort haben“. Im Herzen, so heißt es, kann der Meditierende der anderen Personen Herzen schauen und erkennen, wenn er das Gemüt auf die Erkenntnis der Herzen richtet. Worum geht es nun aber beim Herz-Sutra genau? Lassen wir uns zunächst einmal auf seinen Text ein, der ein Herz-Stück buddhistischer Tradition beschreibt, in dem wir das Wort „Herz“ selbst gar nicht finden werden:

Bodhisattva Avalokiteshvara, in der Übung der tiefen transzendenten Weisheit erkannte, dass alle fünf Skandas  leer sind und überwand so alles Leiden. Shariputra , Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist wirklich Leere, Leere wirklich Form. Das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und unterscheidendes Denken. Shariputra, die Formen aller Dinge sind leer, sie entstehen nicht und vergehen nicht, sie sind nicht rein und nicht unrein, nehmen nicht zu und nicht ab. Daher ist in der Leere keine Form, weder Empfindung, Wahrnehmung, Wollen oder unterscheidendes Denken, weder Auge, Ohr, Nase, Zunge oder Körper, weder Farbe, Ton, Duft oder Geschmack, weder Berührbares noch Vorstellung, weder ein Bereich der Sinnesorgane noch ein Bereich des Daseins, weder Unwissenheit noch ein Ende von Unwissenheit. Und so gibt es weder Alter noch Tod, noch ein Ende von Alter und Tod, weder Leiden noch Entstehen von Leiden, kein Anhäufen, Vernichten, keinen Weg, weder Erkennen noch Erreichen, weil es nichts zu erreichen gibt. Ein Bodhisattva lebt aus dieser Weisheit ohne Hindernis im Geist, ohne Hindernis und daher ohne Furcht. Jenseits aller Illusionen ist endlich Nirvana. Alle Buddhas der Vergangenheit leben aus dieser transzendenten Weisheit, erreichen die höchste Erleuchtung vollkommen und unübertroffen. Wisse daher, dass die transzendente Weisheit das große heilige Mantra ist, das große strahlende Mantra, das unübertroffene Mantra, das alle Leiden nimmt. Das ist wahr und ohne Fehl. Das ist das Mantra, verkündet in der transzendenten Weisheit. Es lautet:

GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SWAHA.

Täglich, so wird berichtet, rezitieren Zen-Mönche dieses „Gate, gate, paragate, paramsagate bodhi swaha“, das für sie bedeutet:

„Gegangen, gegangen, über alles hinaus, über alles ganz und gar hinausgegangen“.

Oder wie es in einer anderen Übersetzung heißt:

„Gegangen, gegangen, den ganzen Weg hinübergegangen, alle hinübergegangen zum anderen Ufer, Erleuchtung, Lobpreis.“

Und was heißt das für uns ganz konkret? Im Herz-Schlag des Gewahr-Seins findet der Mensch jenen Ort, der sein Selbst wirklich ausmacht. Für den amerikanischen Zen-Meister Bernard Glassman beschreitet das Herz-Sutra jenen Weg, die Wirklichkeit über die Vielfalt der Realität, den Reichtum an Phänomenen und Unterscheidungen zu beschreiben. Und er verdeutlicht dies an dem Beispiel des „Zauberer von Oz“, in dem die Protagonistin Dorothy auf den gelben Ziegelsteinweg geschickt wird. „Diesen gelben Ziegelsteinweg gibt es jedoch nicht! Wir sind bereits auf ihm. Wo immer wir sind, befindet sich der gelbe Ziegelsteinweg. Auf diesem Weg gibt es kein Innen und kein Außen. Alles ist dieser Weg; wir alle sind auf dem Weg. Wohin? Er führt nirgendwo hin! Er ist der Herzschlag des Lebens in alle Richtungen.“ Und deshalb sagt er auch: „Wenn wir annehmen, wir praktizierten, um den Weg zu realisieren, begreifen wir nicht, worum es geht, denn dann gehen wir davon aus, dass wir durch Praxis etwas erreichen werden…. Nach der gleichen Logik denken wir, dass wir am Leben bleiben, weil wir atmen, als ob das Atmen unser Lebendig sein verursachen würde. Nein, beides findet gleichzeitig statt. Beides steht in keinem linearen Verhältnis, Ursache und Wirkung sind eins.“

In entscheidender Weise kommt es also für denjenigen, der das Herz-Sutra und das Mantra „Gate, gate…“ rezitiert darauf an, sich immer wieder neu zu vergegenwärtigen. Denn der Schlag des Herzens macht deutlich, wie lebendig wir sind. Und wie sieht es in der westlichen Tradition aus?

Franz-Xaver Jans-Scheidegger, der Theologe, Psychologe und Psychotherapeut im Haus „Via Cordis“ in Flüeli-Ranft weiß von den verschiedenen Wegen kontemplativer Spiritualität. Er schlägt eine Brücke von der östlichen zur westlichen Tradition, wenn er auf die Parallelen zum Herzensgebet hinweist. „Diese Art der Versenkungs-Meditation finden wir neben dem Mantra-Yoga auch im nama-japa (Murmeln des Gottesnamens) der Hindus, im dhikr der Sufis oder im Amida-Zen-Buddhismus. In der Verbindung von Wort (Laut, Klang), Rhythmus (Atem, Herzschlag) und Haltung tritt der Mensch bewusst in Resonanz mit den harmonikalen Strukturen der Schöpfungsordnung. Es findet dabei ein gegenseitiges Empfangen und Weiterschenken statt; und zwar im Herzen. Das Herz ist die eigentliche Person-Mitte des Menschen. In ihr fühlt er sich geeint und rückgebunden in das Mysterium des göttlichen Lebens.“

„Herz“ als Synonym für „Seele“
Bereits in der Theologie des Neuen Testamentes wird deutlich, dass es im Kontakt des Menschen zu Gott nicht um die Formulierung von Worten geht, die lediglich reine Lippen-Bekenntnisse bleiben. Im Herzen wird wirkliche Liebe sichtbar, wenn Paulus zum Beispiel im ersten Brief an die junge Gemeinde in Ephesus schreibt: „Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid…“ (1. Epheser 18).
Das Zentrum des Menschen, das Herz, hat in der jüdischen wie christlichen Tradition einen hohen Rang. Beim Herzensgebet geht es daher um das Wahrnehmen jener göttlichen Wirklichkeit in der Wesensmitte des Menschen, jener Wirklichkeit, die im Raum des Herzens verinnerlicht wird. Die Ursprünge dieses spirituellen Weges liegen für Christen im Neuen Testament, und zwar vor allem in jenen Stoßgebeten, die Menschen an Jesus richten, wenn es zum Beispiel heißt: „Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit uns“ (Matthäus 20,31) oder „Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns“ (Lukas 17,13). Es sind aber auch so knappe Sätze wie „Mein Jesus, Barmherzigkeit!” oder „Jesus Christus, erbarme Dich meiner!“, die diesem Gebet Ausdruck verleihen.

Wie aber sieht die konkrete Praxis solcher Stoßgebete aus? Der spirituelle Autor Peter Dyckhoff nennt vor allem jene Punkte, die den inneren Prozess des kosmisch ausgerichteten Gebetes beschreiben:

•    sich sammeln,
•    Schließen der Augen;
•    Öffnen der “Augen der Seele”,
•    Loslassen von allen irdischen Abhängigkeiten,
•    Aufgeben aller konkreten Vorstellungen,
•    jegliche Anspannung abgeben,
•    Gedankenaktivität einstellen,
•    keine Worte machen,
•    die Führung des Geistes Gott überlassen,
•    Zustand tiefer Ruhe – alle Relationen sind aufgehoben,
•    die Seele trennt sich von ihrem belastenden Teil,
•    Vergeistigung der Seele,
•    die Seele erkennt das Bild Gottes,
•    Dasein vor Gott.

Ein Prozess, dessen Tiefe nicht ohne Folgen bleibt für den Übenden. Denn er wird immer mehr zu sich finden können. Der Theologe Emmanuel Jungclaussen mahnt jedoch auch: „Bei aller praktischen Übung ist jedoch zu bedenken, dass die Bitte um das Erbarmen des Herrn der Weg einer bedingungslosen Hingabe ist; denn nur Er weiß wirklich, wessen ich bedarf, um Ihm ganz zu gehören. Dieses Erbarmen kann daher unter Umständen einen äußerst schmerzlichen Läuterungsprozess mit sich bringen. ‚Herr Jesus Christus – erbarme Dich meiner’, das bedeutet: ‚Nimm mich, wie ich bin, und mach mich so, wie Du mich haben willst.’” Nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als zwei verschiedene Weisen des Weges zum Selbst-Gewahrsein sind Herz-Sutra und Herzensgebet zu sehen. Zwei Wege, deren Kern die Einung, die „unio mystica“ des Menschen ist. Nicht von ungefähr werden in der Psychologie diese Wege als gleichrangig angesehen.

Wege zur Einheit
Auf Zen-Meditation wie auf das Herzensgebet weist der Psychologe Maximilian Rieländer von der Sektion Gesundheitspsychologie des Bundesverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen hin. „In einem gestuften Übungsprozess kann man lernen, sich simultan auf mehrere Elemente meditativ zu konzentrieren, so wie sich z.B. ein Musiker auf ein mehrstimmiges Lied konzentriert. In einer Meditation ist das Üben einer kombinierten Körper-Geist-Konzentration sinnvoll, d.h. einer simultanen Konzentration auf ein körperliches Erleben wie Haltung, Atmung, Herzbewegungen, -schläge, sowie auf einen durch ein Wort oder einen Satz ausgedrückten geistigen Inhalt. Meditation kann sich positiv auf den persönlichen Lebensstil auswirken, wenn sie regelmäßig geübt wird, möglichst täglich mit einer Dauer von etwa 20 – 30 Minuten.“ Doch darum allein, so weiß der Psychologe, kann es sicher nicht gehen. So weist dann auch ein Merkblatt der Psychologischen Fachgruppe Entspannungsverfahren darauf hin: „Meditation dient nicht so sehr der Entspannung, sondern vielmehr dem allgemeinen Ziel der Vervollkommnung der Person; Begriffe wie ‚Erleuchtung‘ oder ‚Erlösung‘ und ‚Nirvana‘ machen auf diese religiöse, spirituelle und / oder transzendente Ausrichtung der Übungswege aufmerksam, und sie weisen somit über das Denken im Diesseits hinaus“.

Analytische Klugheit und erfahrbare Empathie
Der Weg des Herz-Sutras und der Weg des Herzensgebetes sind Herausforderungen an uns. Beide verlangen analytische Klugheit ebenso, wie sie zu erfahrbarer Empathie führen. Damit sind sie Wege, die uns immer wieder mahnen, uns zu erinnern. Und die uns ermöglichen, das offene Herz der Mystik in uns lebendiger werden zu lassen. Ganz so, wie es Bruder Wayne Teasdale vom Parlament der Weltreligionen formuliert hat – in tiefer Kenntnis davon, das Leben zu verherzen: „Das mystische Herz spiegelt in seiner Reife die wesentlichen Elemente und Gaben und die Genialität aller Traditionen der spirituellen Weisheit wider: eine verwirklichte moralische Kapazität, Solidarität mit allen lebenden Wesen, absolute Gewaltlosigkeit, Demut, spirituelle Praxis, reife Selbsterkenntnis, eine einfache Lebensweise, selbstloses Dienen und mitfühlendes Handeln und die prophetische Stimme. Diese Elemente werden weiter verfeinert durch eine Reihe von Fähigkeiten, die auf der inneren Reise erworben werden: Offenheit, Präsenz, Zuhören, Sein, Sehen, Spontaneität und Freude.“

Literatur

Glasman, Bernard: Das Herz der Vollendung. Unterweisungen eines westlichen Zen-Meisters. Theseus-Verlag. o.O. 2003;
Dyckhoff, Peter: Einfach beten. Don Bosco-Verlag. München 2001;
Jungclaussen, Emmanuel (Hg.): Das Jesusgebet – Anleitung zur Anrufung des Namens Jesus von einem Mönch der Ostkirche. Friedrich Pustet-Verlag. Regensburg 61994;
Krebber, Werner: Worte, die das Herz öffnen. Vorboten und Wegweiser zur Heilung. In: Connection special 72 „Aufbruch in den Religionen”, Niedertaufkirchen 2004;
Krebber, Werner: Worte, die heilen können. Bibliotherapien aus buddhistischem Geist. In: Connection special 70 „Buddhismus und Psychotherapie“, Niedertaufkirchen 2004;
Rieländer, Maximilian: Meditation, Herzensmeditation, Herzensgebet – Zur Einführung und Einübung. Seeheim 1993 (Selbstverlag);
Teasdale, Wayne: Das mystische Herz. Spirituelle Brücken bauen. Aurum im J. Kamphausen-Verlag. Bielefeld 2004;
Zimmer, Heinrich: Der Weg zum Selbst. Lehre und Leben des Shri Ramana Maharshi.
Hugendubel-Verlag. Kreuzlingen/München 2001 (Diederichs Gelbe Reihe)

© Werner Anahata Krebber

Das Herz des Nichtstuns ist sich dem Leben anzuvertrauen (3. Februar im Mystik-Kreis Köln)

“Sich auf das Nichts Tun einzulassen,
sich auf das Nichts einzulassen,
ohne etwas zu wissen oder zu wollen,
und berührt zu werden
in der Erfahrung des Offenen.“

Doing Nothing ist eine besondere Art der Meditation,
die ganz ohne Methode und Technik auskommt.
Es ist reines, aufrichtiges Dasein.

 

Space Awareness

Raum Gewahrsein ist das Spielbein von Doing Nothing.
Es sind fantasievolle Übungen in der Gruppe,
die Deine Präsenz, Authenzität, Spontanität und Offenheit
schulen, fördern, zur Entfaltung bringen,
und die viel Spaß machen.

An diesem Sonntag wird es morgens von 10:00 bis 12:00
um das reine, mühelose Nichts Tun gehen. – Impuls  „zweckfrei“…
Es wird eine ausführliche Einführung geben, Zeit für Fragen
und viel Zeit für Nichts.
Der Nachmittag von 13:00 bis 15:00
ist für die Space Awareness Praxis vorgesehen.
In der Pause von 12:00 bis 13:00
wird ein kleines Mittagessen bereit stehen.

Wir möchten jeden Teilnehmer darüber hinaus bitten eine Kleinigkeit für die Kaffeepause mitzubringen, Kuchen, Plätzchen o.ä..

Es ist nicht möglich nur am Nachmittag oder nur am Morgen zu kommen.

Kostenbreitrag: 18,-
Anmeldung erforderlich bei
Rani Kaluza: weissefeder@netcologne.de
Fragen und mehr infos: 0221 2406997

„Das Herz des Nichtstuns ist sich dem Leben anzuvertrauen,
sich mit allem, dem Meer, den Bäumen . . . auszutauschen,
und sich an die wahre Natur zurück zu erinnern, die alle Existenz durchatmet.“

Die Veranstaltung findet in Köln Sülz, in der Rolandswerther Strasse statt.

Wir freuen uns sehr auf Euch
Rani Kaluza
und
Werner A. Krebber (Mystik Aktuell)

Die sichtbare Präsenz Gottes

 

Simone Weil im Jahr 1921 / Bild: wikimedia, gemeinfrei

Gott ist abwesend in der Welt,
außer durch die Existenz derer,
die seine Liebe leben.

Sie müssen in der Welt sein
mit ihrer Barmherzigkeit.

Ihre Barmherzigkeit
ist die sichtbare Präsenz Gottes.

Lassen wir es an Barmherzigkeit fehlen,
trennen wir grausam eine Kreatur und Gott.

Simone Weil (1909 – 1943)

Achtsamkeit: Leben, Verständnis, Mitgefühl

Nur wenige Begriffe finden meines Erachtens gegenwärtig so viel missbräuchliche Verwendung wie „Achtsamkeit“. Dieses Wort ist in vielen Bereichen zu einem Modewort verkommen, das inhaltsleer zu werden droht. So ist es gut, sich an seine tiefere Bedeutung zu erinnern. Die „Sieben Wunder der Achtsamkeit“ von Thich Nhat Hanh können dazu einen hervorragenden Beitrag leisten. wak

Foto: © wak

Achtsamkeit besteht darin, unsere authentische Präsenz hervorzubringen, uns im Hier und Jetzt lebendig werden zu lassen und mit den Dingen in Berührung zu kommen.

Achtsamkeit lässt uns erkennen, dass das Leben bereits da ist. Wir können wirklich mit ihm in Kontakt sein und ihm Sinn und Tiefe geben.

Achtsamkeit schenkt dem Objekt unserer Betrachtung Lebenskraft, berührt und umarmt es. Das macht uns selbst lebendig und das Leben wird realer. Dies gibt uns Nahrung und Heilung.

Achtsamkeit vermittelt Sammlung und Konzentration. Wenn wir in unserem Alltag konzentriert sind, werden wir alles tiefer betrachten und besser verstehen können.

Achtsamkeit ermöglicht tiefes Schauen und lässt uns das Objekt unserer Betrachtung außerhalb und in uns selbst besser erkennen.

Achtsamkeit führt zu Verstehen, das tief aus unserem Inneren kommt. Wir erlangen Klarheit und so wird die Bereitschaft zur Akzeptanz gefördert.

Achtsamkeit führt zur Befreiung durch die so gewonnenen Einsichten. Wo immer wir Achtsamkeit praktizieren, ist Leben, Verständnis und Mitgefühl.

Thich Nhat Hanh (*1926)

Das Selbst ist das Herz selber

Von der „Stätte der Lebenskraft“ erzählt Ramana Maharshi einem seiner Schüler. Gelesen hat Ramana davon in der lange verschollenen „Quintessenz der achtgliedrigen Wissenschaft“. Dieses Ayurveda-Kompendium sieht das Herz als „Stätte des Bewusstseins, des sich selber gewahr seins.“ Und Maharshi ist davon überzeugt: „Das Selbst ist das Herz selber. Das Selbst ist die Stätte und Mitte selber. Es ist immerdar seiner selbst inne als ‚Herz’.“ Was aber hat es mit dem Herzen für uns auf sich? Zwei Traditionen werden daraufhin genauer befragt: das buddhistische Herz-Sutra und das ostkirchliche Herzensgebet. Und befragt wird damit auch, wie Leben, wie das Selbst, verherzt werden kann.

 

herzbuddhajesusFoto: privat

„Wir leben in einer Kultur, die blind für das spirituelle Leben ist. Sie ist spirituell ignorant, moralisch verwirrt, psychisch gestört und süchtig nach Gewalt, Unterhaltung und Konsum.“ Wayne Teasdale, Vorstandsmitglied des Parlaments der Weltreligionen, weist auf ein kollektives System hin, das in weiten Teilen Herz-los geworden ist. Es gilt daher, sich zu erinnern…

Das Herz ist der Sitz des Lebens
In der Geschichte der unterschiedlichen Versuche von Seins-Erklärungen wird das Herz seit langem als der Sitz der Seele gesehen. Es wird als Sitz des Lebens bezeichnet, aber auch als der Ort des Denk- und Gedächtnisvermögens. „Die Nabelschnur des Seienden im Nichtseienden fanden die Dichter heraus, in ihrem Herz forschend“, heißt es in der altindischen Rigveda. Vedische Tradition sieht die geistige Kraft in das Herz des Menschen gesenkt. Nur ein kurzer Weg ist es zur Tradition der Upanishaden mit ihrer engen Verbindung von Herz und Geist: „Durch das Herz erkennt man die Wahrheit.“ Und hier ist bereits die Brücke zum Buddhismus geschlagen, wenn dort die fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) „das Herz zum Hort haben“. Im Herzen, so heißt es, kann der Meditierende der anderen Personen Herzen schauen und erkennen, wenn er das Gemüt auf die Erkenntnis der Herzen richtet. Worum geht es nun aber beim Herz-Sutra genau? Lassen wir uns zunächst einmal auf seinen Text ein, der ein Herz-Stück buddhistischer Tradition beschreibt, in dem wir das Wort „Herz“ selbst gar nicht finden werden:

Bodhisattva Avalokiteshvara, in der Übung der tiefen transzendenten Weisheit erkannte, dass alle fünf Skandas  leer sind und überwand so alles Leiden. Shariputra , Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist wirklich Leere, Leere wirklich Form. Das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und unterscheidendes Denken. Shariputra, die Formen aller Dinge sind leer, sie entstehen nicht und vergehen nicht, sie sind nicht rein und nicht unrein, nehmen nicht zu und nicht ab. Daher ist in der Leere keine Form, weder Empfindung, Wahrnehmung, Wollen oder unterscheidendes Denken, weder Auge, Ohr, Nase, Zunge oder Körper, weder Farbe, Ton, Duft oder Geschmack, weder Berührbares noch Vorstellung, weder ein Bereich der Sinnesorgane noch ein Bereich des Daseins, weder Unwissenheit noch ein Ende von Unwissenheit. Und so gibt es weder Alter noch Tod, noch ein Ende von Alter und Tod, weder Leiden noch Entstehen von Leiden, kein Anhäufen, Vernichten, keinen Weg, weder Erkennen noch Erreichen, weil es nichts zu erreichen gibt. Ein Bodhisattva lebt aus dieser Weisheit ohne Hindernis im Geist, ohne Hindernis und daher ohne Furcht. Jenseits aller Illusionen ist endlich Nirvana. Alle Buddhas der Vergangenheit leben aus dieser transzendenten Weisheit, erreichen die höchste Erleuchtung vollkommen und unübertroffen. Wisse daher, dass die transzendente Weisheit das große heilige Mantra ist, das große strahlende Mantra, das unübertroffene Mantra, das alle Leiden nimmt. Das ist wahr und ohne Fehl. Das ist das Mantra, verkündet in der transzendenten Weisheit. Es lautet:

GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SWAHA.

Täglich, so wird berichtet, rezitieren Zen-Mönche dieses „Gate, gate, paragate, paramsagate bodhi swaha“, das für sie bedeutet:

„Gegangen, gegangen, über alles hinaus, über alles ganz und gar hinausgegangen“.

Oder wie es in einer anderen Übersetzung heißt:

„Gegangen, gegangen, den ganzen Weg hinübergegangen, alle hinübergegangen zum anderen Ufer, Erleuchtung, Lobpreis.“

Und was heißt das für uns ganz konkret? Im Herz-Schlag des Gewahr-Seins findet der Mensch jenen Ort, der sein Selbst wirklich ausmacht. Für den amerikanischen Zen-Meister Bernard Glassman beschreitet das Herz-Sutra jenen Weg, die Wirklichkeit über die Vielfalt der Realität, den Reichtum an Phänomenen und Unterscheidungen zu beschreiben. Und er verdeutlicht dies an dem Beispiel des „Zauberer von Oz“, in dem die Protagonistin Dorothy auf den gelben Ziegelsteinweg geschickt wird. „Diesen gelben Ziegelsteinweg gibt es jedoch nicht! Wir sind bereits auf ihm. Wo immer wir sind, befindet sich der gelbe Ziegelsteinweg. Auf diesem Weg gibt es kein Innen und kein Außen. Alles ist dieser Weg; wir alle sind auf dem Weg. Wohin? Er führt nirgendwo hin! Er ist der Herzschlag des Lebens in alle Richtungen.“ Und deshalb sagt er auch: „Wenn wir annehmen, wir praktizierten, um den Weg zu realisieren, begreifen wir nicht, worum es geht, denn dann gehen wir davon aus, dass wir durch Praxis etwas erreichen werden…. Nach der gleichen Logik denken wir, dass wir am Leben bleiben, weil wir atmen, als ob das Atmen unser Lebendig sein verursachen würde. Nein, beides findet gleichzeitig statt. Beides steht in keinem linearen Verhältnis, Ursache und Wirkung sind eins.“

In entscheidender Weise kommt es also für denjenigen, der das Herz-Sutra und das Mantra „Gate, gate…“ rezitiert darauf an, sich immer wieder neu zu vergegenwärtigen. Denn der Schlag des Herzens macht deutlich, wie lebendig wir sind. Und wie sieht es in der westlichen Tradition aus?

Franz-Xaver Jans-Scheidegger, der Theologe, Psychologe und Psychotherapeut im Haus „Via Cordis“ in Flüeli-Ranft weiß von den verschiedenen Wegen kontemplativer Spiritualität. Er schlägt eine Brücke von der östlichen zur westlichen Tradition, wenn er auf die Parallelen zum Herzensgebet hinweist. „Diese Art der Versenkungs-Meditation finden wir neben dem Mantra-Yoga auch im nama-japa (Murmeln des Gottesnamens) der Hindus, im dhikr der Sufis oder im Amida-Zen-Buddhismus. In der Verbindung von Wort (Laut, Klang), Rhythmus (Atem, Herzschlag) und Haltung tritt der Mensch bewusst in Resonanz mit den harmonikalen Strukturen der Schöpfungsordnung. Es findet dabei ein gegenseitiges Empfangen und Weiterschenken statt; und zwar im Herzen. Das Herz ist die eigentliche Person-Mitte des Menschen. In ihr fühlt er sich geeint und rückgebunden in das Mysterium des göttlichen Lebens.“

„Herz“ als Synonym für „Seele“
Bereits in der Theologie des Neuen Testamentes wird deutlich, dass es im Kontakt des Menschen zu Gott nicht um die Formulierung von Worten geht, die lediglich reine Lippen-Bekenntnisse bleiben. Im Herzen wird wirkliche Liebe sichtbar, wenn Paulus zum Beispiel im ersten Brief an die junge Gemeinde in Ephesus schreibt: „Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid…“ (1. Epheser 18).
Das Zentrum des Menschen, das Herz, hat in der jüdischen wie christlichen Tradition einen hohen Rang. Beim Herzensgebet geht es daher um das Wahrnehmen jener göttlichen Wirklichkeit in der Wesensmitte des Menschen, jener Wirklichkeit, die im Raum des Herzens verinnerlicht wird. Die Ursprünge dieses spirituellen Weges liegen für Christen im Neuen Testament, und zwar vor allem in jenen Stoßgebeten, die Menschen an Jesus richten, wenn es zum Beispiel heißt: „Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit uns“ (Matthäus 20,31) oder „Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns“ (Lukas 17,13). Es sind aber auch so knappe Sätze wie „Mein Jesus, Barmherzigkeit!” oder „Jesus Christus, erbarme Dich meiner!“, die diesem Gebet Ausdruck verleihen.

Wie aber sieht die konkrete Praxis solcher Stoßgebete aus? Der spirituelle Autor Peter Dyckhoff nennt vor allem jene Punkte, die den inneren Prozess des kosmisch ausgerichteten Gebetes beschreiben:

•    sich sammeln,
•    Schließen der Augen;
•    Öffnen der “Augen der Seele”,
•    Loslassen von allen irdischen Abhängigkeiten,
•    Aufgeben aller konkreten Vorstellungen,
•    jegliche Anspannung abgeben,
•    Gedankenaktivität einstellen,
•    keine Worte machen,
•    die Führung des Geistes Gott überlassen,
•    Zustand tiefer Ruhe – alle Relationen sind aufgehoben,
•    die Seele trennt sich von ihrem belastenden Teil,
•    Vergeistigung der Seele,
•    die Seele erkennt das Bild Gottes,
•    Dasein vor Gott.

Ein Prozess, dessen Tiefe nicht ohne Folgen bleibt für den Übenden. Denn er wird immer mehr zu sich finden können. Der Theologe Emmanuel Jungclaussen mahnt jedoch auch: „Bei aller praktischen Übung ist jedoch zu bedenken, dass die Bitte um das Erbarmen des Herrn der Weg einer bedingungslosen Hingabe ist; denn nur Er weiß wirklich, wessen ich bedarf, um Ihm ganz zu gehören. Dieses Erbarmen kann daher unter Umständen einen äußerst schmerzlichen Läuterungsprozess mit sich bringen. ‚Herr Jesus Christus – erbarme Dich meiner’, das bedeutet: ‚Nimm mich, wie ich bin, und mach mich so, wie Du mich haben willst.’” Nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als zwei verschiedene Weisen des Weges zum Selbst-Gewahrsein sind Herz-Sutra und Herzensgebet zu sehen. Zwei Wege, deren Kern die Einung, die „unio mystica“ des Menschen ist. Nicht von ungefähr werden in der Psychologie diese Wege als gleichrangig angesehen.

Wege zur Einheit
Auf Zen-Meditation wie auf das Herzensgebet weist der Psychologe Maximilian Rieländer von der Sektion Gesundheitspsychologie des Bundesverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen hin. „In einem gestuften Übungsprozess kann man lernen, sich simultan auf mehrere Elemente meditativ zu konzentrieren, so wie sich z.B. ein Musiker auf ein mehrstimmiges Lied konzentriert. In einer Meditation ist das Üben einer kombinierten Körper-Geist-Konzentration sinnvoll, d.h. einer simultanen Konzentration auf ein körperliches Erleben wie Haltung, Atmung, Herzbewegungen, -schläge, sowie auf einen durch ein Wort oder einen Satz ausgedrückten geistigen Inhalt. Meditation kann sich positiv auf den persönlichen Lebensstil auswirken, wenn sie regelmäßig geübt wird, möglichst täglich mit einer Dauer von etwa 20 – 30 Minuten.“ Doch darum allein, so weiß der Psychologe, kann es sicher nicht gehen. So weist dann auch ein Merkblatt der Psychologischen Fachgruppe Entspannungsverfahren darauf hin: „Meditation dient nicht so sehr der Entspannung, sondern vielmehr dem allgemeinen Ziel der Vervollkommnung der Person; Begriffe wie ‚Erleuchtung‘ oder ‚Erlösung‘ und ‚Nirvana‘ machen auf diese religiöse, spirituelle und / oder transzendente Ausrichtung der Übungswege aufmerksam, und sie weisen somit über das Denken im Diesseits hinaus“.

Analytische Klugheit und erfahrbare Empathie
Der Weg des Herz-Sutras und der Weg des Herzensgebetes sind Herausforderungen an uns. Beide verlangen analytische Klugheit ebenso, wie sie zu erfahrbarer Empathie führen. Damit sind sie Wege, die uns immer wieder mahnen, uns zu erinnern. Und die uns ermöglichen, das offene Herz der Mystik in uns lebendiger werden zu lassen. Ganz so, wie es Bruder Wayne Teasdale vom Parlament der Weltreligionen formuliert hat – in tiefer Kenntnis davon, das Leben zu verherzen: „Das mystische Herz spiegelt in seiner Reife die wesentlichen Elemente und Gaben und die Genialität aller Traditionen der spirituellen Weisheit wider: eine verwirklichte moralische Kapazität, Solidarität mit allen lebenden Wesen, absolute Gewaltlosigkeit, Demut, spirituelle Praxis, reife Selbsterkenntnis, eine einfache Lebensweise, selbstloses Dienen und mitfühlendes Handeln und die prophetische Stimme. Diese Elemente werden weiter verfeinert durch eine Reihe von Fähigkeiten, die auf der inneren Reise erworben werden: Offenheit, Präsenz, Zuhören, Sein, Sehen, Spontaneität und Freude.“

Literatur
Glasman, Bernard: Das Herz der Vollendung. Unterweisungen eines westlichen Zen-Meisters. Theseus-Verlag. o.O. 2003;
Dyckhoff, Peter: Einfach beten. Don Bosco-Verlag. München 2001;
Jungclaussen, Emmanuel (Hg.): Das Jesusgebet – Anleitung zur Anrufung des Namens Jesus von einem Mönch der Ostkirche. Friedrich Pustet-Verlag. Regensburg 61994;
Krebber, Werner: Worte, die das Herz öffnen. Vorboten und Wegweiser zur Heilung. In: Connection special 72 „Aufbruch in den Religionen”, Niedertaufkirchen 2004;
Krebber, Werner: Worte, die heilen können. Bibliotherapien aus buddhistischem Geist. In: Connection special 70 „Buddhismus und Psychotherapie“, Niedertaufkirchen 2004;
Rieländer, Maximilian: Meditation, Herzensmeditation, Herzensgebet – Zur Einführung und Einübung. Seeheim 1993 (Selbstverlag);
Teasdale, Wayne: Das mystische Herz. Spirituelle Brücken bauen. Aurum im J. Kamphausen-Verlag. Bielefeld 2004;
Zimmer, Heinrich: Der Weg zum Selbst. Lehre und Leben des Shri Ramana Maharshi.
Hugendubel-Verlag. Kreuzlingen/München 2001 (Diederichs Gelbe Reihe)

© Werner Anahata Krebber

Gefühl, mit allem verwandt zu sein

Es gibt so viele Dinge, die mich ausfüllen: Pflanzen, Tiere, Wolke, Tag, Nacht und die ewige Präsenz im Menschen.

Je unsicherer ich mir über mich selbst bin, umso mehr wächst in mir das Gefühl, mit allem verwandt zu sein.

Carl Gustav Jung (1875 – 1961)

Leben, Verständnis, Mitgefühl

Achtsamkeit besteht darin, unsere authentische Präsenz hervorzubringen, uns im Hier und Jetzt lebendig werden zu lassen und mit den Dingen in Berührung zu kommen.

Achtsamkeit lässt uns erkennen, dass das Leben bereits da ist. Wir können wirklich mit ihm in Kontakt sein und ihm Sinn und Tiefe geben.

Achtsamkeit schenkt dem Objekt unserer Betrachtung Lebenskraft, berührt und umarmt es. Das macht uns selbst lebendig und das Leben wird realer. Dies gibt uns Nahrung und Heilung.

Achtsamkeit vermittelt Sammlung und Konzentration. Wenn wir in unserem Alltag konzentriert sind, werden wir alles tiefer betrachten und besser verstehen können.

Achtsamkeit ermöglicht tiefes Schauen und lässt uns das Objekt unserer Betrachtung außerhalb und in uns selbst besser erkennen.

Achtsamkeit führt zu Verstehen, das tief aus unserem Inneren kommt. Wir erlangen Klarheit und so wird die Bereitschaft zur Akzeptanz gefördert.

Achtsamkeit führt zur Befreiung durch die so gewonnenen Einsichten. Wo immer wir Achtsamkeit praktizieren, ist Leben, Verständnis und Mitgefühl.

Thich Nhat Hanh (*1926)

http://www.intersein-zentrum.de/thich.html