Wer auf mystische Weise Gott erkennen will, muss über alle Vernunfterkenntnis hinaus, auch sich selbst lassend, sich in die Dunkelheit werfen. Dann wird er finden, wie das, was der Verstand für unmöglich hält, nämlich das Zugleich von Sein und Nichtsein, die Notwendigkeit selbst ist. Dionysius sagt, dass man, seine Erkenntnisse selbst mit Füßen tretend, ohne Wissen zu Gott streben muss, weil es dann zu jener Vereinigung kommt, in der es ohne Erkenntnis Gewissheit gibt, wo die Dunkelheit Licht und die Unwissenheit Wissenschaft ist. Niemand kann auf mystische Weise Gott schauen als allein in der Dunkelheit des Ineinsfallens der Gegensätze.
CD von nootheater & Organisation zur Umwandlung des Kinos
Der Autor Yoshida Kenkô (1283–1350) stammt aus einer alten japanischen Priester- und Gelehrtenfamilie und war Hofmeister, Offizier der kaiserlichen Palastwache und Dichter, bevor er sich mit etwa vierzig Jahren aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzog und in den Mönchsstand eintrat. Seine Aufzeichnungen wurden erst nach seinem Tod in seinen zwei Hütten auf an den Wänden haftenden Papieren entdeckt und gesammelt; ein Teil war von seinem Diener zusammengetragen worden.
Oskar Benl, der die Betrachtungen aus der Stille ins Deutsche übertragen hat, schreibt in seinem Nachwort: „Kenkô besaß in hervorragendem Ausmaß die ganze Bildung seiner Zeit. Er war mit dem Konfuzianismus nicht weniger als mit dem Taoismus von Lao-tse und Chuang-tse und deren Ideal des ’Nicht-Handelns‘ (wu-wei) vertraut. Er ist zutiefst den sinnlosen Hasten und Jagen dieser Welt abgeneigt und sehnt sich nach der friedlichen, ganz dem Erleben der Schönheit hingegebenen Heian-Zeit zurück, für die der berühmte, aber kaum übersetzbare Begriff des „mono no aware“ bezeichnend ist. Mono no aware begreifen, heißt: sich von den Dingen der Welt bewegen lassen, die Erscheinungen der Jahreszeiten innig miterleben und in der Liebe unbedingt der Stimme des Herzens folgen.“
Das Werk enthält in 243 Kapiteln von sehr unterschiedlicher Länge, bunt aneinandergereiht, Betrachtungen über die mannigfachen Dinge des Lebens, über das Glück der Einsamkeit, über Tempel und seltsame Mönche, über die Liebe, alte Bräuche, Gedichte, über Einfalt und Leichtsinn der Menschen.
Wie ein roter Faden zieht sich durch dies alles die Erkenntnis vom Unbestand allen Daseins und von der Notwendigkeit, sich in rechter Weise auf das Sterben vorzubereiten. Hierin liegt kein wehleidiger Pessimismus, sondern das Wissen um die wahre Beschaffenheit menschlicher Existenz. Alles in diesem Leben muss unter dem Blickwinkel des Todes betrachtet werden. ’Ein Tag im Leben ist wertvoller als ein Berg Gold… Jeden Tag sollte er (das heißt der Mensch) über das Glück des bloßen Daseins in Jubel ausbrechen.‘ Auch von Kenkô gilt wohl Nietzsches Wort über Montaigne: „Dass ein solcher Mensch gelebt habt, dadurch ist wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden.“
Andreas Brehmer und Ronald Steckel haben aus der Übertragung Oskar Benls eine Hörbuchfassung destilliert; die Sprachaufnahmen entstanden 2019/2020 in Berlin in einer Produktion des nootheaters und der Organisation zur Umwandlung des Kinos; der Sprecher ist Ulrich Gerhardt.
Eines Tages, mein Freund, verletzte sich ein Mann an seinem Bein. Er mußte nun mit einer Krücke gehen. Die Krücke war ihm sehr von Nutzen, sowohl beim Gehen als auch für andere Zwecke. Er brachte seiner ganzen Familie bei, Krücken zu benutzen, und sie wurden ein Bestandteil des täglichen Lebens. Jedermann wollte eine Krücke haben. Manche waren aus Elfenbein geschnitzt, andere mit Gold verziert. Man eröffnete Schulen, um die Menschen im Gebrauch der Krücken zu unterweisen, an den Universitäten wurden Lehrstühle eingerichtet, die sich mit den höheren Aspekten dieser Wissenschaft zu befassen hatten. Wenige, sehr wenige Menschen begannen schließlich, ohne Krücken zu gehen. Man hielt dies allgemein für skandalös und absurd. Und schließlich gab es ja auch viele Verwendungsmöglichkeiten für Krücken. Aber manche von ihnen beharrten auf ihrer Ansicht; sie wurden bestraft. Sie versuchten den Menschen zu zeigen, daß man eine Krücke nur dann benutzt, wenn sie nötig ist. Und daß man sich in vielen der Fälle, wo man jetzt eine Krücke benutzte, auf andere Weise besser behelfen könnte. Wenige hörten ihnen zu. Um den Vorurteilen zu begegnen, begannen einige von denen, die ohne Krücken gehen konnten, sich völlig anders zu verhalten als die etablierte Gesellschaft. Sie blieben wenige. Als man herausfand, daß – nachdem so viele Generationen die Krücken benutzt hatten – tatsächlich nur noch ein paar Menschen ohne Krücken gehen konnten, hielt die Mehrheit ihre Notwendigkeit für bewiesen.
Wer auf mystische Weise Gott erkennen will, muss über alle Vernunfterkenntnis hinaus, auch sich selbst lassend, sich in die Dunkelheit werfen. Dann wird er finden, wie das, was der Verstand für unmöglich hält, nämlich das Zugleich von Sein und Nichtsein, die Notwendigkeit selbst ist. Dionysius sagt, dass man, seine Erkenntnisse selbst mit Füßen tretend, ohne Wissen zu Gott streben muss, weil es dann zu jener Vereinigung kommt, in der es ohne Erkenntnis Gewissheit gibt, wo die Dunkelheit Licht und die Unwissenheit Wissenschaft ist. Niemand kann auf mystische Weise Gott schauen als allein in der Dunkelheit des Ineinsfallens der Gegensätze.
Der Mensch ist nicht lange zufrieden mit dem, was ihm diese Zeit als Nahrung bietet. Es müssen sich schließlich Hunger und Durst einstellen, die einige Menschen dazu zwingen werden, nach tieferer Befriedigung zu suchen. Schon jetzt gibt es hier und da Menschen auf der Erde, die aufgehört haben, ein Leben leben zu wollen, das keine Ewigkeit in sich birgt. Sie fühlen die Notwendigkeit, Gott neu zu suchen. Es gibt innerhalb und außerhalb der Kirchen viele solcher Menschen. Das, was sie verbindet, ist, dass Worte und Abstraktionen nichts mehr für sie bedeuten. Vergangene Auffassungen haben nur dann Bedeutung für sie, wenn sie entweder mit ihrer Vorstellung vom Leben übereinstimmen oder aber Basis für eine Weiterentwicklung sind und dadurch ihr Leben kraftvoller machen. Am besten bleiben wir gleich bei denen, die sich, ohne sich in das Gewand einer bestehenden Religion zu hüllen, auf einen einsamen Streifzug begeben; bei denen, die die Fülle des Lebens nicht in Tempeln, Synagogen oder Kirchen suchen, sondern unter Gottes offenem Himmel, bei welchem Wetter auch immer. Mitten in ihrer täglichen gehetzten Existenz haben sie einen Augenblick umher geschaut und das Leben aufs Neue mit derselben tiefen Verwunderung wie der primitive Mensch gesehen. Sie schauen nach dem Leben um sie herum, belauschen seine Schwingungen in sich selbst und fragen sich: »Wer bin ich und woher komme ich? Wohin gehe ich?« Aber sie bekommen keine Antwort.
Johannes Anker Larsen (1874 – 1957) in einem Vortrag in Amersfoort 1927. Zunächst erschienen hier: Vom wirklichen Leben. Drei Vorträge gehalten in Amersfoort, Berlin und Zürich erschienen im mym- Verlag, Berlin, 2004
Der vollständige Vortrag ist hier nachzulesen, weitere Vorträge werden noch folgen:
Was erforderlich ist (wenn überhaupt etwas), ist nicht Schreiben oder Reden – daran besteht für gewöhnlich gar kein Mangel –, sondern Schweigen und Arbeiten; denn Reden stört, Schweigen und Arbeiten dagegen sammeln die Gedanken und festigen den Geist. Sobald dann ein Mensch das begriffen hat, was ihm zu seinem Nutzen gesagt worden ist, besteht für ihn keine Notwendigkeit mehr, etwas zu hören oder zu erörtern. Er muß sich vielmehr eifrig daran machen, das in Demut, Barmherzigkeit und Selbstverachtung in die Praxis umzusetzen, was er schweigend und aufmerksam gelernt hat.
Im Leben des Indianers gibt es nur eine unumgängliche Pflicht: die Pflicht des Gebets – des täglichen Erkennens des Unsichtbaren und des Ewigen. Für ihn besteht keine Notwendigkeit, von sieben Tagen einen für heilig zu erklären, denn für ihn sind alle Tage Gottes Tage.
Charles Alexander Eastman / Ohíye S’a ( 1858 – 1939)
Martin Schneider über die neue Nutzung alter Kirchen in Gelsenkirchen
in der „Süddeutschen“ vom 14. März 2015
Es ist ein Kreuz mit alten Kirchen. In Gelsenkirchen sogar Heilig-Kreuz (und Sankt Georg). Zwei Kirchen, deren ursprünglicher Sinn, darin Messe zu feiern etc. ad acta gelegt wurde. Und was für Kirchen!
Dabei geht es nicht nur darum, dass sakrale Räume aufgegeben und einer neuen Nutzung zugeführt werden. Die mag so sinnvoll sein wie immer sie will. Genannt werden für die Aufgabe von Gebäuden mit sinnstiftender Funktion immer finanzielle Gründe, die hier z.B. das Bistum Essen dazu bewegen. Und dieses Bistum steht da nicht allein – es ist bundesweit so zur Devise geworden: Was sich nicht „rechnet“ muss weg.
Tragisch daran ist, dass Menschen ein Stück Heimat, ein Ort der Begegnung – mit Gott und mit Menschen, ein Zuhause, ein Stück Sicherheit etc. genommen wird. Menschen, die in diesen Kirchen zum Teil alt geworden sind. Sie werden allein gelassen von einer Institution, deren eigentliche Aufgabe es ist (oder war?), Sinn zu stiften. Aus einer vorgeschobenen finanziellen Notwendigkeit wird so ein pastorales Desaster mit einer nicht nur „metaphysischen“ Heimatlosigkeit. Und ein Stück mehr Kulturverlust.