Seit rund 5000 Jahren sind Menschen von Labyrinthen fasziniert. Kein Verirren scheint hier möglich zu sein, da es nur einen Weg gibt: der in sie hinein und aus ihnen herausführt. Labyrinthe sind nicht spirituelle Dekoration oder esoterische Spielerei, sondern ein Weg, den Menschen beschreiten, um sich immer wieder neu gewahr zu werden und sich mit ihrer gewonnen Innenwelt in der Außenwelt frei bewegen zu lernen.
Seit dem Palast von Knossos auf Kreta wissen Menschen von Labyrinthen. Sie finden sich im kretischen Tanz ebenso wie in skandinavischen Troja-Burgen, in der Geburtsmagie Indiens ebenso wie bei den Hopi-Indianern im Südwesten der USA. Zwar ist das griechische Wort labyrinthos von seiner griechischen Herkunft her bekannt, seine Bedeutung ist jedoch nicht ganz eindeutig. Es beschreibt – und das ist wohl eine gesicherte Gemeinsamkeit – ein Haus mit zahlreichen Irrgängen und damit eine scheinbar ausweglos scheinende Anlage.
Bei Meyers Lexikon heißt es zum Labyrinth: “Gebäude mit vielfach sich kreuzenden Gängen, auch ein Irrgarten oder eine grafische Figur mit verschachteltem Linienbild, aber nur einem Zugang ins Zentrum; genannt nach dem Labyrinth, das im griechischen Mythos Daidalos für den Minotaurus auf Kreta baute. Labyrinthdarstellungen finden sich häufig auf kretischen Münzen, 5./4. Jahrhundert, und römischen Mosaiken. Die Mitte des Labyrinths bedeutete im Mittelalter die Ecclesia (Kirche) oder sogar den Himmel, es konnte auch der Bußweg des Gläubigen nach Jerusalem gemeint sein; bekannt sind die Labyrinthe auf Fußböden christlicher Kirchen (Kathedralen in Chartres und Amiens).” Und schon ist damit der Bogen von dem Ursprung über das Mittelalter bis hin zur Gegenwart gespannt. Doch beginnen wir bei den Ursprüngen.

Der Mythos vom Minotaurus
Eng verbunden ist das Labyrinth mit dem Palast von Knossos auf Kreta. Und die Geschichte dieses speziellen Labyrinthes hat es im wahrsten Sinne des Wortes in sich: Die Mythologie erinnert an den Minotaurus. Halb Mensch, halb Stier, war nach Menschenopfern gierig. Der junge Theseus stellte sich dieser bedrohlichen Herausforderung mit Hilfe Ariadnes, die ihm ein Garnknäuel mitgab. Theseus besiegte dann nicht nur das magische Zwitterwesen, sondern fand mit Hilfe des gelegten Fadens auch wieder zurück. Bei Plutarch ist folgendes zu lesen: “Nachdem Theseus in Kreta angekommen war, bekam er, wie die meisten schreiben und singen, von Ariadne, die sich in ihn verliebte, den Faden und die Belehrung, wie er sich durch die Windungen des Labyrinthes hindurchfinden könnte, tötete den Minotaurus und fuhr mit Ariadne und den athenischen Kindern davon.” Zusammengefasst hat Hermann Kern den alten Mythos in dem weit über eine knappe Beschreibung hinausgehenden Vierzeiler:
Im Labyrinth verliert man sich nicht,
im Labyrinth findet man sich.
Im Labyrinth begegnet man nicht dem Minotaurus,
im Labyrinth begegnet man sich selbst.
Die Geschichte des Labyrinthes und viele seiner nachfolgenden Deutungen nahm so ihren Anfang.
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Was bedeutet ein Labyrinth?
Der Pädagoge Theo Tröndle beschreibt das Labyrinth als “einen Weg, welcher mit einem maximalen Umweg, mit vielen Wendepunkten zur Mitte führt. In seiner Unübersichtlichkeit und Komplexität führt das Labyrinth zum Ziel.” Doch er schränkt auch ein: “zum Ziel gelangt nur, wer selbst geht, immer wieder weitergeht, den Weg sucht, Wendepunkte akzeptiert und nicht verzagt. Zunächst scheint es einfach, die Mitte scheint nah, sie wird mehrfach umrundet, die Entfernung zur Mitte wird vermeintlich größer und droht aus dem Blick zu geraten. Dies lässt Zweifel aufkommen, wirklich auf dem richtigen Weg zu sein, wirklich jemals am Ziel anzugelangen. Der Weg, die Ziele, letztlich der einzelne selbst wird in Frage gestellt.” Denn schon mit dem ersten Schritt in den Weg des Labyrinths beginnt der innerdynamische Prozess der Selbsterkenntnis. Der Weg des Labyrinthes ist schon von seiner Anlage her ein Weg, der nach innen führt. Der Weg des Labyrinthes ist ein Weg zum eigenen Selbst, zur tiefsten eigenen Wahrheit. Sig Lonegren, der britische Autor und Praktiker der Radiästhesie, drückt es so aus: Das Labyrinth “ist in dem Sinne magisch, dass durch den bewussten Gebrauch Antworten auf Fragen gefunden werden können, spirituelle Bewusstheit verstärkt werden kann. In der Verwirrung der aufgewickelten Pfade des Labyrinths kann der Weg, der vor uns liegt, plötzlich deutlich erkennbar werden. Es ist Ihre Entscheidung, das Labyrinth zu betreten, aber wenn Sie es betreten haben, gibt es nur noch einen Weg: hin und her, hin und her, bis Sie letztendlich Ihr Ziel erreicht haben – den Schatz im Zentrum.” Und das Labyrinth ist für den, der sich ihm öffnet, keine Einbahnstraße: “Ist die Mitte erreicht, muss das Labyrinth auf demselben Weg verlassen werden, der Weg beginnt von neuem. In der Mitte wurde etwas aufgenommen oder zurückgelassen. Loslassen, Abschied nehmen, aber auch Neuorientierung…”
Genau diesen Fragen, die sich auf dem Weg hinein wie dem hinaus stellen, gilt es, sich immer wieder neu gewahr zu werden.
Wenn der Weg des Menschen auch wieder zurückführt, nach außen, in die Welt, zeigt dies überdeutlich, dass sich der Mensch im Labyrinth untrennbar mit der “Außen”-Welt verbunden fühlt, weil er mit ihr untrennbar verbunden ist. Das verhindert vor allem, sich in oberflächlichen Selbst-Bespiegelungen und einengender Egozentrik zu verstricken.
Hermann Kern beschreibt den Weg des Labyrinths als einen Weg, der Körper und Seele fordert und beide ganz in Anspruch nimmt. “Die Bewegung verläuft nicht linear-gradlinig, sondern im Wechsel von Systole und Diastole (Zusammenziehen und Sich-Weiten). So wie der Brustkorb sich beim Einatmen weitet, so wird derjenige, der das Labyrinth betritt, zunächst durch einen weiten Atemzug nach außen getragen; nach dem Ausatmen ist er wieder dem Zentrum nahe, vor einer neuen expansiven Bewegung des Einatmens, und nach erneutem Ausatmen ist er im Zentrum. Diese Pendelbewegung findet sich nicht nur auf dieser mittleren Ebene der Umgangs-Gruppen, sondern auch in großem Maßstab (Weg hinein / Weg heraus) wie auch auf niedrigster Ebene als Richtungswechsel, der nötig ist beim Übergang von einem Umgang zum nächsten.” Und noch etwas anderes ist beim Labyrinth zu beachten: Seine ihm eigene Systematik.
Von der Öffnung, dem Eingang des Labyrinths führt der Weg über den sogenannten Pfad, der von Wänden begrenzt wird. Vom äußeren zum inneren Pfad werden die Pfade aufsteigend durchnummeriert, so dass der äußerste die Nummer 1, hat, der nächste die 2, der nächste die 3 usw. Dem innerste Punkt, das Ziel also, entspricht bei einem siebenpfadigen Labyrinth die 8.
Das kretische Labyrinth
Der Labyrinth-Experte Hermann Kern führt die Beschreibung der Konstruktion des Kretischen Labyrinths in mathematischer Exaktheit weiter, indem er es wie folgt beschreibt: “Zwischen die Arme eines zentralen Kreuzes werden vier Ecken (oder Halbkreise) und in diese wiederum vier Punkte eingefügt. Anschließend verbindet man das obere Kreuzende mit dem senkrechten Arm der linken oberen Ecke, fährt mit der Bewegung (ohne zu zeichnen) weiter bis zum Punkt in dieser Ecke und zieht von dort – in Gegenbewegung – einen Verbindungsbogen zum senkrechten Arm der rechten oberen Ecke. Dann setzt man wieder am Punkt in dieser Ecke an und zieht einen Bogen zum Ende des waagerechten Armes in der linken oberen Ecke. Wenn so – in stetiger Pendelbewegung – die jeweils freien Ansatzstellen restlos miteinander verbunden werden, entsteht das Kretische Labyrinth mit sieben Umgängen.” Was sich hier sehr technisch liest, ist die exakte Beschreibung eines klassischen Labyrinths, dessen Form nachgezeichnet werden kann. Es ist die Beschreibung eines Labyrinths, das seit Tausenden von Jahren die Menschen angeregt hat, sich auf den Weg zu sich selbst zu begeben.
Heute wohl wesentlich bekannter und durch zahlreiche Abbildungen vermittelt, ist aber das Chartres-Labyrinth.
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Das Labyrinth von Chartres
Das wohl berühmteste und in seiner Bedeutung sehr weitreichend ist das Labyrinth von Chartres, einige Kilometer von Paris entfernt.
“Wer durch das Labyrinth von Chartres läuft, erlebt keine Irrwege, sondern einen Weg, der rhythmisch mit seinen Bögen und Kehrtwendungen gegliedert ist, und auf dem längsten möglichen Weg auf engstem Raum sicher und eindeutig ins Innere führt…” sagt Lothar Bracht.
Die Zahlen, mit denen das Labyrinth in enger Verbindung steht, sind keineswegs zufällig gewählt. Und so beschreibt Bracht dann auch die “heilige Geometrie” dieses Labyrinthes, dessen Weg durch 4 mal 7, also 28 Kehren gekennzeichnet ist. Die 4 ist von Bedeutung, weil sie den ersten irdisch begrenzten Raumkörper hervorbringt, das aus 4 Dreiecken gebildete Tetraeder. Für die Schüler des Pythagoras, der in Chartres am rechten Westportal neben der Musik und den Freien Künsten dargestellt ist, war die Vier die Welt. Besteht sie doch aus 4 Elementen, wird von 4 Himmelsrichtungen umschlossen und von 4 Jahreszeiten belebt. Die 7 ist die zweite vollkommene Zahl. Als Primzahl ist sie nicht nur unteilbar, sie entzieht sich auch der Fläche und der Körperwelt. Sie ist die Zahl der Zeit im Raum und setzt sich zusammen aus der 4 und der 3. Die 3 wird im Dreieck besonders sichtbar. Sie ist das Symbol der Trinität, der göttlichen Dreifaltigkeit. Die Rose mit 6 Blättern im Zentrum des Labyrinths erinnert an die im Mittelalter beliebte Bezeichnung rosa mystica (Mystische Rose) für Maria ebenso wie an die Beliebtheit der mystischen Rose bei den Alchimisten. Hat die natürliche Rose nur fünf Blätter, wurde die Zahl 6 hier gewählt, um die Vollkommenheit des Labyrinths zu dokumentieren. Die 8 am Zielpunkt der Mitte steht für eine lebenspendende, heilkräftig wirkende, aufbauende Wesenheit. Für den Schweizer Freimaurer und Labyrinth-Kenner Robert Villiger wiederholt sich “die Bewusstheit der eigenen Entwicklung gegenüber, um die es im Großen geht, beim Labyrinth im Kleinen, in den 28 Kurven. Wäre jede Kurve des Labyrinthweges ein Geburtstag des Pilgers und der Weg zwischen zwei Kehren das Jahr, in dem der Pilger älter wird (das wird er ja eben nicht auf einen Schlag an seinem Geburtstag), so könnte er die Entwicklung seines eigenen Lebens bis zum 28. Geburtstag selber miterleben.”
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Weitere Deutungen
Für Indianer beispielsweise erfährt der Mensch im Labyrinth die Wahrheit dessen, was mit ihm und um ihn herum geschehen ist. Er wird damit auch aufgefordert, sein inneres Potenzial zu erkennen und darin bestärkt, auf sein inneres Wachsen zu vertrauen. Gleichzeitig wird er damit dazu angeregt, sich selbst bedingungslos zu lieben. Und dies alles mit einem – im wahrsten Sinne des Wortes – »aufrechten« Gang. Das Fazit des Labyrinths heißt auch in der indianischen Tradition: Der Weg nach innen ist der Weg nach außen.
Für Hermann Kern sind es so komplexe Fragen wie Initiation, Tod, Unterwelt, Wiedergeburt, Heilige Hochzeit und Kosmologie, die mit dem Labyrinth in engster Verbindung stehen und die den Weg dessen begleiten, der es betritt.
Theseus, Minotaurus und wir
Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt hat sich in einer Ballade mit dem Mythos vom “Minotaurus” beschäftigt. Er holt die mythische Labyrinth-Geschichte in die Aktualität der Gegenwart. Robert Villiger beschreibt Dürrenmatts Sicht so: “Er schildert, wie das Bewusstsein des frühen Menschen erwachen konnte, wie der erstaunliche Prozess der Selbstentdeckung sich hat abspielen können. Dürrenmatt stellt sich ein Labyrinth vor, dessen Wände aus spiegelndem Glas gefertigt sind. Transparenz und Reflexion im Irrgarten ergeben ein wahrhaft schwer verständliches Umfeld. Der Minotaurus entdeckt sich in seinem Spiegelbild, in den unzähligen Spiegelungen seiner selbst. Er nimmt die Eindringlinge und deren Spiegelbilder durch die transparenten Wände wahr. Sich selbst zu entdecken, bleibt wohl eines der faszinierendsten Abenteuer.” Für Goncalo Vilas-Boas birgt dies Fragen und Antworten, die den Minotaurus einschließen, aber auch Theseus und uns: “Kann oder wagt der Mensch, das Labyrinth zu verlassen? Trifft er dort den Minotaurus, den Stiermenschen der alten kretischen Sage? Der Minotaurus kann an jeder Ecke erscheinen, es herrscht ja der Zufall. Und Theseus kann ihn treffen und töten, oder auch nicht. Das Labyrinth existiert gleichzeitig im Menschen selbst und außerhalb, in der Welt, der Mensch ist Minotaurus und Theseus gleichzeitig.”
Das Labyrinth ist fast 5000 Jahre alt. Und doch ist es heute so aktuell wie damals, weil es dem Menschen einen Raum gibt, in dem er sich selbst finden kann. Durch Wirrungen und Kehren vom vermeintlich einzigen richtigen Ziel abgehalten, kommt er auf seinem Weg im Labyrinth auf die Spur zu seinem Selbst.
© Werner Anahata Krebber
Literatur
Hallman, Frithjof: Das Rätsel der Labyrinthe. Verlag Damböck, Ardagger 1994
Kern, Hermann: Labyrinthe, Prestel Verlag, 4.Aufl., München 1999
Krebber, Werner: Der Weg zum Selbst. Vom Weg in die Zukunft auf den Spuren der Mystik. In: Connection special 68, Niedertaufkirchen 2003, S. 26-29
Lonegren, Sig: Labyrinthe. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1993
Tröndle, Theo: Labyrinth-Meditationen, http://www.zum.de
Villiger, Robert: Das Labyrinth – ein Initiationsweg, In: Alpina, Lausanne (125)1999, Nr. 5
http://www.tritonus.biz/
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