Gnosis nenn‘ ichs

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Urprinzipium aller Dinge, erster Grund des Seins und Leben ist der Geist,

Zweites Wesen, ausgegossen von dem ersten Sohn des Geistes, ist das Chaos,

und das dritte, das von beiden Sein und Bildung hat empfangen, ist die Seele.

Und sie gleicht dem scheuen Wilde,

das gehetzt wird auf der Erde,

Von dem Tod, der seine Kräfte,

Unentwegt an ihr erprobt.

Ist sie heut im Reich des Lichtes,

Morgen ist sie schon im Elend,

Tief versenkt in Schmerz und Thränen,

Der Freude folgt die Thräne,

der Thräne folgt der Richter,

dem Richter folgt der Tod –

Und im Labyrinthe irrend, sucht vergebens sie den Ausweg.

Da sprach Jesus: „Schau, o Vater,

Auf dies heimgesuchte Wesen,

Wie es, fern von deinem Hauche,

Kummervoll auf Erden irret,

Will entfliehn dem bittren Chaos,

Aber weiß nicht, wo der Aufstieg.

Ihm zum Heile sende, Vater,

Mich, dass ich herniedersteige,

Mit den Siegeln in den Händen,

Die Äonen all durchschreite,

Die Mysterien all eröffne,

Götterwesen ihm entschleire,

Und des heilgen Wegs Geheimnis,

Gnosis nenn‘ ichs, ihm verkünde.“

Naassenischer Hymnus oder Naassenischer Psalm /120 – 140 u.Z.

Übersetzer Adolf von Harnack (1851 – 1930)

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Abstinent, trocken oder nüchtern?

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Wer mit Alkohol mißbräuchlich zu tun hat, der weiß in seinem Innersten: Alkoholiker ist man lebenslang! Irritiert? Nicht nötig! Blicken wir gemeinsam darauf, was es wirklich auf sich hat mit abstinent, trocken und nüchtern.

Abstinent:
Das Wort Abstinenz ist aus dem lateinischen Wort „abstinere“ abgeleitet, das sich enthalten, sich fernhalten bedeutet. Für Abstinenz können beispielsweise ideologische wie gesellschaftliche Aspekte eine Rolle spielen wie die Abstinenzbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen. Abstinenz ist allerdings erst einmal die einfache Beschreibung dafür, nicht mehr zu trinken, keinen Alkohol mehr zu konsumieren. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Aber ist es damit schon getan, „trocken“ zu werden? Ist mit Abstinenz allein der „Schalter“ schon umgelegt? Ich denke, dass nicht…

Trocken:
Vom Wort her bedeutet „trocken“ nur „ohne Feuchtigkeit“. Für den Alkoholiker ist diese Feuchtigkeit Bier, Sekt, Wein, Schnaps. Ist er „trocken“, so verzichtet er auf diese Spirituosen, trinkt sie nicht – er ist dann ein „trockener Alkoholiker“.
Aber es gilt auch: wer „trocken“ ist, ist damit nicht gleich „nüchtern“. Wird doch sprichwörtlich gesagt, dass jemand, der eine „trockene Leber“ hat, gern mal einen trinkt; klingt fast wie ein Paradoxon…

Nüchtern:
„Durch Alkoholgenuss nicht beeinträchtigt“ – mit dieser Formulierung beschreibt ein Wörterbuch der Deutschen Sprache den Begriff „Nüchtern“. Klarer und deutlicher kann es wohl nicht formuliert werden. Konkret heißt das vor allem: innere Klarheit.

Um zu dieser Klarheit zu kommen, der inneren Nüchternheit, ist Meditation ein täglicher Wegbegleiter.

In seinem Buch „Mut und Gnade“ schreibt Ken Wilber (*1949): „Ich möchte aber hervorheben, dass Meditation an sich eine spirituelle Praxis ist und immer war. Sie mag christlich, buddhistisch, hinduistisch, taoistisch oder muslimisch sein – immer ist sie der Weg der Seele nach innen, wo sie schliesslich ihr Einssein mit dem Göttlichen findet.“ Nur auf den ersten Blick scheint das eine Einbahnstraße auf dem Weg nach innen zu sein. Doch dieser verkürzte Blick täuscht. Denn aus dem Weg nach innen wird – wie beim Labyrinth – der Weg nach außen.

Mir persönlich hilft da immer jener Text, den Reinhold Niebuhr (1892 – 1971) uns hinterlassen hat:

Gott gebe mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Werner A. Krebber

Mehr zum Zusammenhang von Alkohol, Alkoholismus und Spiritualität hier: https://alkoholundspirit.wordpress.com/

Spiegelungen seiner selbst

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Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt hat sich in einer Ballade mit dem Mythos vom “Minotaurus” beschäftigt. Er holt die mythische Labyrinth-Geschichte in die Aktualität der Gegenwart. Robert Villiger beschreibt Dürrenmatts Sicht so: “Er schildert, wie das Bewusstsein des frühen Menschen erwachen konnte, wie der erstaunliche Prozess der Selbstentdeckung sich hat abspielen können. Dürrenmatt stellt sich ein Labyrinth vor, dessen Wände aus spiegelndem Glas gefertigt sind. Transparenz und Reflexion im Irrgarten ergeben ein wahrhaft schwer verständliches Umfeld. Der Minotaurus entdeckt sich in seinem Spiegelbild, in den unzähligen Spiegelungen seiner selbst. Er nimmt die Eindringlinge und deren Spiegelbilder durch die transparenten Wände wahr. Sich selbst zu entdecken, bleibt wohl eines der faszinierendsten Abenteuer.” Für Goncalo Vilas-Boas birgt dies Fragen und Antworten, die den Minotaurus einschließen, aber auch Theseus und uns: “Kann oder wagt der Mensch, das Labyrinth zu verlassen? Trifft er dort den Minotaurus, den Stiermenschen der alten kretischen Sage? Der Minotaurus kann an jeder Ecke erscheinen, es herrscht ja der Zufall. Und Theseus kann ihn treffen und töten, oder auch nicht. Das Labyrinth existiert gleichzeitig im Menschen selbst und außerhalb, in der Welt, der Mensch ist Minotaurus und Theseus gleichzeitig.”

Der ganze Artikel von mir zum Labyrinth ist hier zu finden: https://mystikaktuell.wordpress.com/2019/01/04/labyrinthe-der-weg-nach-innen-ist-der-weg-nach-aussen/

In ruhigen Stunden nachlesen und Corona ein Schnippchen schlagen…

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Nachfolgend Links zu ein paar älteren Texten von mir. Zum Teil sind sie in der „Connection“ erschienen, zum Teil anderswo. Jedenfalls laden sie ein, noch einmal darin zu stöbern und die eine oder andere Anregung zu bekommen.

I

Der Weg zum Selbst
Der Weg in die Zukunft auf den Spuren der Mystik
https://mystikaktuell.wordpress.com/2015/06/03/wege-zum-selbst/

Labyrinth – das große Abenteuer
https://mystikaktuell.wordpress.com/2011/05/21/labyrinth-das-grose-abenteuer/

Nur wer aufbricht, kann ankommen
Pilgerschaft als Seins-Weise
https://mystikaktuell.wordpress.com/2012/04/08/pilgern-als-seins-weise/

II

Meister Eckhart: Brückenbauer zum Hier und Jetzt
https://mystikaktuell.wordpress.com/2012/03/27/meister-eckhart-bruckenbauer-zum-hier-und-jetzt/

Annäherung an Meister Eckhart
https://meistereckhart750.wordpress.com/2010/12/06/annaherung-an-meister-eckhart/

Erleuchtung im Durchbruch des Nichts
Der Mystiker Johannes Tauler und Zen
https://mystikaktuell.wordpress.com/2010/11/28/der-mystiker-johannes-tauler-und-zen/

Meister Eckhart und Zen-Buddhismus
https://meistereckhart750.wordpress.com/2010/11/20/meister-eckhart-und-zen-buddhismus/

Meister Eckhart und die Beginen
https://meistereckhart750.wordpress.com/2010/02/17/eckhart-und-die-beginen/

Beginen – Mystikerinnen des Tuns
https://mystikaktuell.wordpress.com/2010/11/21/beginen-mystikerinnen-des-tuns/

Beginen: Mystik, Verfolgung und Verurteilung
https://mystikaktuell.wordpress.com/2012/05/20/beginen-mystik-verfolgung-und-verurteilung/

 

III

Das Herz – Stätte der Lebenskraft
https://mystikaktuell.wordpress.com/2012/01/22/das-herz-statte-der-lebenskraft/

Worte, die heilen können
Bibliotherapie aus buddhistischem Geist
https://mystikaktuell.wordpress.com/2015/07/30/worte-die-heilen-koennen/

Heilende Worte
https://mystikaktuell.wordpress.com/2015/07/29/heilende-worte/

Worte, die das Herz öffnen
Vorboten und Wegweiser zur Heilung
https://mystikaktuell.wordpress.com/2012/04/20/worte-die-das-herz-offnen/

 

Aphorismen und Lyrisches von mir findet sich hier:

https://wernerkrebber.wordpress.com/category/aphorismen/

Vertrauen in letzte Geborgenheit

 

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Wenn unser Leben ein Irrgarten ist,
dann ist die Grundstimmung unseres Lebens
die Angst vor Irrtum und Verlorensein.

Wenn unser Leben ein Labyrinth ist,
dann haben wir eine Mitte,
und unsere Grundstimmung
ist das Vertrauen in eine letzte Geborgenheit.

Gernot Candolini (*1959)

Mehr zu ihm und Labyrinthen hier: https://www.labyrinthe.at/

Labyrinthe: Der Weg nach innen ist der Weg nach außen

Seit rund 5000 Jahren sind Menschen von Labyrinthen fasziniert. Kein Verirren scheint hier möglich zu sein, da es nur einen Weg gibt: der in sie hinein und aus ihnen herausführt. Labyrinthe sind  nicht spirituelle Dekoration oder esoterische Spielerei, sondern ein Weg, den Menschen beschreiten, um sich immer wieder neu gewahr zu werden und sich mit ihrer gewonnen Innenwelt in der Außenwelt frei bewegen zu lernen.

 

Seit dem Palast von Knossos auf Kreta wissen Menschen von Labyrinthen. Sie finden sich im kretischen Tanz ebenso wie in skandinavischen Troja-Burgen, in der Geburtsmagie Indiens ebenso wie bei den Hopi-Indianern im Südwesten der USA. Zwar ist das griechische Wort labyrinthos von seiner griechischen Herkunft her bekannt, seine Bedeutung ist jedoch nicht ganz eindeutig. Es beschreibt – und das ist wohl eine gesicherte Gemeinsamkeit – ein Haus mit zahlreichen Irrgängen und damit eine scheinbar ausweglos scheinende Anlage.

Bei Meyers Lexikon heißt es zum Labyrinth: “Gebäude mit vielfach sich kreuzenden Gängen, auch ein Irrgarten oder eine grafische Figur mit verschachteltem Linienbild, aber nur einem Zugang ins Zentrum; genannt nach dem Labyrinth, das im griechischen Mythos Daidalos für den Minotaurus auf Kreta baute. Labyrinthdarstellungen finden sich häufig auf kretischen Münzen, 5./4. Jahrhundert, und römischen Mosaiken. Die Mitte des Labyrinths bedeutete im Mittelalter die Ecclesia (Kirche) oder sogar den Himmel, es konnte auch der Bußweg des Gläubigen nach Jerusalem gemeint sein; bekannt sind die Labyrinthe auf Fußböden christlicher Kirchen (Kathedralen in Chartres und Amiens).” Und schon ist damit der Bogen von dem Ursprung über das Mittelalter bis hin zur Gegenwart gespannt. Doch beginnen wir bei den Ursprüngen.

Der Mythos vom Minotaurus

Eng verbunden ist das Labyrinth mit dem Palast von Knossos auf Kreta. Und die Geschichte dieses speziellen Labyrinthes hat es im wahrsten Sinne des Wortes in sich: Die Mythologie erinnert an den Minotaurus. Halb Mensch, halb Stier, war nach Menschenopfern gierig. Der junge Theseus stellte sich dieser bedrohlichen Herausforderung mit Hilfe Ariadnes, die ihm ein Garnknäuel mitgab. Theseus besiegte dann nicht nur das magische Zwitterwesen, sondern fand mit Hilfe des gelegten Fadens auch wieder zurück. Bei Plutarch ist folgendes zu lesen: “Nachdem Theseus in Kreta angekommen war, bekam er, wie die meisten schreiben und singen, von Ariadne, die sich in ihn verliebte, den Faden und die Belehrung, wie er sich durch die Windungen des Labyrinthes hindurchfinden könnte, tötete den Minotaurus und fuhr mit Ariadne und den athenischen Kindern davon.” Zusammengefasst hat Hermann Kern den alten Mythos in dem weit über eine knappe Beschreibung hinausgehenden Vierzeiler:

Im Labyrinth verliert man sich nicht,

im Labyrinth findet man sich.

Im Labyrinth begegnet man nicht dem Minotaurus,

im Labyrinth begegnet man sich selbst.

 

Die Geschichte des Labyrinthes und viele seiner nachfolgenden Deutungen nahm so ihren Anfang.

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Was bedeutet ein Labyrinth?

Der Pädagoge Theo Tröndle beschreibt das Labyrinth als “einen Weg, welcher mit einem maximalen Umweg, mit vielen Wendepunkten zur Mitte führt. In seiner Unübersichtlichkeit und Komplexität führt das Labyrinth zum Ziel.” Doch er schränkt auch ein: “zum Ziel gelangt nur, wer selbst geht, immer wieder weitergeht, den Weg sucht, Wendepunkte akzeptiert und nicht verzagt. Zunächst scheint es einfach, die Mitte scheint nah, sie wird mehrfach umrundet, die Entfernung zur Mitte wird vermeintlich größer und droht aus dem Blick zu geraten. Dies lässt Zweifel aufkommen, wirklich auf dem richtigen Weg zu sein, wirklich jemals am Ziel anzugelangen. Der Weg, die Ziele, letztlich der einzelne selbst wird in Frage gestellt.” Denn schon mit dem ersten Schritt in den Weg des Labyrinths beginnt der innerdynamische Prozess der Selbsterkenntnis. Der Weg des Labyrinthes ist schon von seiner Anlage her ein Weg, der nach innen führt. Der Weg des Labyrinthes ist ein Weg zum eigenen Selbst, zur tiefsten eigenen Wahrheit. Sig Lonegren, der britische Autor und Praktiker der Radiästhesie, drückt es so aus: Das Labyrinth “ist in dem Sinne magisch, dass durch den bewussten Gebrauch Antworten auf Fragen gefunden werden können, spirituelle Bewusstheit verstärkt werden kann. In der Verwirrung der aufgewickelten Pfade des Labyrinths kann der Weg, der vor uns liegt, plötzlich deutlich erkennbar werden. Es ist Ihre Entscheidung, das Labyrinth zu betreten, aber wenn Sie es betreten haben, gibt es nur noch einen Weg: hin und her, hin und her, bis Sie letztendlich Ihr Ziel erreicht haben – den Schatz im Zentrum.” Und das Labyrinth ist für den, der sich ihm öffnet, keine Einbahnstraße: “Ist die Mitte erreicht, muss das Labyrinth auf demselben Weg verlassen werden, der Weg beginnt von neuem. In der Mitte wurde etwas aufgenommen oder zurückgelassen. Loslassen, Abschied nehmen, aber auch Neuorientierung…”

Genau diesen Fragen, die sich auf dem Weg hinein wie dem hinaus stellen, gilt es, sich immer wieder neu gewahr zu werden.

Wenn der Weg des Menschen auch wieder zurückführt, nach außen, in die Welt, zeigt dies überdeutlich, dass sich der Mensch im Labyrinth untrennbar mit der “Außen”-Welt verbunden fühlt, weil er mit ihr untrennbar verbunden ist. Das verhindert vor allem, sich in oberflächlichen Selbst-Bespiegelungen und einengender Egozentrik zu verstricken.

Hermann Kern beschreibt den Weg des Labyrinths als einen Weg, der Körper und Seele fordert und beide ganz in Anspruch nimmt. “Die Bewegung verläuft nicht linear-gradlinig, sondern im Wechsel von Systole und Diastole (Zusammenziehen und Sich-Weiten). So wie der Brustkorb sich beim Einatmen weitet, so wird derjenige, der das Labyrinth betritt, zunächst durch einen weiten Atemzug nach außen getragen; nach dem Ausatmen ist er wieder dem Zentrum nahe, vor einer neuen expansiven Bewegung des Einatmens, und nach erneutem Ausatmen ist er im Zentrum. Diese Pendelbewegung findet sich nicht nur auf dieser mittleren Ebene der Umgangs-Gruppen, sondern auch in großem Maßstab (Weg hinein / Weg heraus) wie auch auf niedrigster Ebene als Richtungswechsel, der nötig ist beim Übergang von einem Umgang zum nächsten.” Und noch etwas anderes ist beim Labyrinth zu beachten: Seine ihm eigene Systematik.

Von der Öffnung, dem Eingang des Labyrinths führt der Weg über den sogenannten Pfad, der von Wänden begrenzt wird. Vom äußeren zum inneren Pfad werden die Pfade aufsteigend durchnummeriert, so dass der äußerste die Nummer 1, hat, der nächste die 2, der nächste die 3 usw. Dem innerste Punkt, das Ziel also, entspricht bei einem siebenpfadigen Labyrinth die 8.

Das kretische Labyrinth

Der Labyrinth-Experte Hermann Kern führt die Beschreibung der Konstruktion des Kretischen Labyrinths in mathematischer Exaktheit weiter, indem er es wie folgt beschreibt: “Zwischen die Arme eines zentralen Kreuzes werden vier Ecken (oder Halbkreise) und in diese wiederum vier Punkte eingefügt. Anschließend verbindet man das obere Kreuzende mit dem senkrechten Arm der linken oberen Ecke, fährt mit der Bewegung (ohne zu zeichnen) weiter bis zum Punkt in dieser Ecke und zieht von dort – in Gegenbewegung – einen Verbindungsbogen zum senkrechten Arm der rechten oberen Ecke. Dann setzt man wieder am Punkt in dieser Ecke an und zieht einen Bogen zum Ende des waagerechten Armes in der linken oberen Ecke. Wenn so – in stetiger Pendelbewegung – die jeweils freien Ansatzstellen restlos miteinander verbunden werden, entsteht das Kretische Labyrinth mit sieben Umgängen.” Was sich hier sehr technisch liest, ist die exakte Beschreibung eines klassischen Labyrinths, dessen Form nachgezeichnet werden kann. Es ist die Beschreibung eines Labyrinths, das seit Tausenden von Jahren die Menschen angeregt hat, sich auf den Weg zu sich selbst zu begeben.

Heute wohl wesentlich bekannter und durch zahlreiche Abbildungen vermittelt, ist aber das Chartres-Labyrinth.

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Das Labyrinth von Chartres

Das wohl berühmteste und in seiner Bedeutung sehr weitreichend ist das Labyrinth von Chartres, einige Kilometer von Paris entfernt.

“Wer durch das Labyrinth von Chartres läuft, erlebt keine Irrwege, sondern einen Weg, der rhythmisch mit seinen Bögen und Kehrtwendungen gegliedert ist, und auf dem längsten möglichen Weg auf engstem Raum sicher und eindeutig ins Innere führt…” sagt Lothar Bracht.

Die Zahlen, mit denen das Labyrinth in enger Verbindung steht, sind keineswegs zufällig gewählt. Und so beschreibt Bracht dann auch die “heilige Geometrie” dieses Labyrinthes, dessen Weg durch 4 mal 7, also 28 Kehren gekennzeichnet ist. Die 4 ist von Bedeutung, weil sie den ersten irdisch begrenzten Raumkörper hervorbringt, das aus 4 Dreiecken gebildete Tetraeder. Für die Schüler des Pythagoras, der in Chartres am rechten Westportal neben der Musik und den Freien Künsten dargestellt ist, war die Vier die Welt. Besteht sie doch aus 4 Elementen, wird von 4 Himmelsrichtungen umschlossen und von 4 Jahreszeiten belebt. Die 7 ist die zweite vollkommene Zahl. Als Primzahl ist sie nicht nur unteilbar, sie entzieht sich auch der Fläche und der Körperwelt. Sie ist die Zahl der Zeit im Raum und setzt sich zusammen aus der 4 und der 3. Die 3 wird im Dreieck besonders sichtbar. Sie ist das Symbol der Trinität, der göttlichen Dreifaltigkeit. Die Rose mit 6 Blättern im Zentrum des Labyrinths erinnert an die im Mittelalter beliebte Bezeichnung rosa mystica (Mystische Rose) für Maria ebenso wie an die Beliebtheit der mystischen Rose bei den Alchimisten. Hat die natürliche Rose nur fünf Blätter, wurde die Zahl 6 hier gewählt, um die Vollkommenheit des Labyrinths zu dokumentieren. Die 8 am Zielpunkt der Mitte steht für eine lebenspendende, heilkräftig wirkende, aufbauende Wesenheit. Für den Schweizer Freimaurer und Labyrinth-Kenner Robert Villiger wiederholt sich “die Bewusstheit der eigenen Entwicklung gegenüber, um die es im Großen geht, beim Labyrinth im Kleinen, in den 28 Kurven. Wäre jede Kurve des Labyrinthweges ein Geburtstag des Pilgers und der Weg zwischen zwei Kehren das Jahr, in dem der Pilger älter wird (das wird er ja eben nicht auf einen Schlag an seinem Geburtstag), so könnte er die Entwicklung seines eigenen Lebens bis zum 28. Geburtstag selber miterleben.”

Montage: © wak

Weitere Deutungen

Für Indianer beispielsweise erfährt der Mensch im Labyrinth die Wahrheit dessen, was mit ihm und um ihn herum geschehen ist. Er wird damit auch aufgefordert, sein inneres Potenzial zu erkennen und darin bestärkt, auf sein inneres Wachsen zu vertrauen. Gleichzeitig wird er damit dazu angeregt, sich selbst bedingungslos zu lieben. Und dies alles mit einem – im wahrsten Sinne des Wortes – »aufrechten« Gang. Das Fazit des Labyrinths heißt auch in der indianischen Tradition: Der Weg nach innen ist der Weg nach außen.

Für Hermann Kern sind es so komplexe Fragen wie Initiation, Tod, Unterwelt, Wiedergeburt, Heilige Hochzeit und Kosmologie, die mit dem Labyrinth in engster Verbindung stehen und die den Weg dessen begleiten, der es betritt.

Theseus, Minotaurus und wir

Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt hat sich in einer Ballade mit dem Mythos vom “Minotaurus” beschäftigt. Er holt die mythische Labyrinth-Geschichte in die Aktualität der Gegenwart. Robert Villiger beschreibt Dürrenmatts Sicht so: “Er schildert, wie das Bewusstsein des frühen Menschen erwachen konnte, wie der erstaunliche Prozess der Selbstentdeckung sich hat abspielen können. Dürrenmatt stellt sich ein Labyrinth vor, dessen Wände aus spiegelndem Glas gefertigt sind. Transparenz und Reflexion im Irrgarten ergeben ein wahrhaft schwer verständliches Umfeld. Der Minotaurus entdeckt sich in seinem Spiegelbild, in den unzähligen Spiegelungen seiner selbst. Er nimmt die Eindringlinge und deren Spiegelbilder durch die transparenten Wände wahr. Sich selbst zu entdecken, bleibt wohl eines der faszinierendsten Abenteuer.” Für Goncalo Vilas-Boas birgt dies Fragen und Antworten, die den Minotaurus einschließen, aber auch Theseus und uns: “Kann oder wagt der Mensch, das Labyrinth zu verlassen? Trifft er dort den Minotaurus, den Stiermenschen der alten kretischen Sage? Der Minotaurus kann an jeder Ecke erscheinen, es herrscht ja der Zufall. Und Theseus kann ihn treffen und töten, oder auch nicht. Das Labyrinth existiert gleichzeitig im Menschen selbst und außerhalb, in der Welt, der Mensch ist Minotaurus und Theseus gleichzeitig.”

Das Labyrinth ist fast 5000 Jahre alt. Und doch ist es heute so aktuell wie damals, weil es dem Menschen einen Raum gibt, in dem er sich selbst finden kann. Durch Wirrungen und Kehren vom vermeintlich einzigen richtigen Ziel abgehalten, kommt er auf seinem Weg im Labyrinth auf die Spur zu seinem Selbst.

© Werner Anahata Krebber

 

Literatur

Hallman, Frithjof: Das Rätsel der Labyrinthe. Verlag Damböck, Ardagger 1994

Kern, Hermann: Labyrinthe, Prestel Verlag, 4.Aufl., München 1999

Krebber, Werner: Der Weg zum Selbst. Vom Weg in die Zukunft auf den Spuren der Mystik. In: Connection special 68, Niedertaufkirchen 2003, S. 26-29

Lonegren, Sig: Labyrinthe. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1993

Tröndle, Theo: Labyrinth-Meditationen, http://www.zum.de

Villiger, Robert: Das Labyrinth – ein Initiationsweg, In: Alpina, Lausanne (125)1999, Nr. 5

http://www.tritonus.biz/

 

Im Labyrinth begegnet man sich selbst

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Im Labyrinth verliert man sich nicht,
im Labyrinth findet man sich.
Im Labyrinth begegnet man nicht dem Minotaurus,
im Labyrinth begegnet man sich selbst.

Hermann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. 4., unveränderte Auflage. Prestel, München 1999

 

 

 

Sich selbst begegnen

Siehe auch hier:

3sat: Der Weg zur Mitte – Das Labyrinth im Alltag
„Labyrinthe sind ein Mythos der Kulturgeschichte. Der Ursprung dieses Menschheitssymbol reicht weit zurück in die Geschichte der Erde, wann und wo es geschaffen wurden, kann bis heute aber niemand mit Gewissheit sagen. Auch nicht, welchem Zweck sie ursprünglich dienten und was das Wort Labyrinth wirklich bedeutet.“
Aus dem Hinweistext zu der Sendung.