Eine Revolution des Herzens herbeiführen

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Die größte Herausforderung unserer Zeit ist: Wie können wir eine Revolution des Herzens herbeiführen, eine Revolution, die bei jedem einzelnen von uns beginnen muss. Wenn wir anfangen, den niedrigsten Platz einzunehmen, den anderen die Füße zu waschen, unsere Brüder und Schwestern mit jener brennenden Liebe zu lieben, jener Leidenschaft, die zum Kreuz führte, dann können wir wirklich sagen: „Jetzt habe ich begonnen.“

Dorothy Day (1897-1980)

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Zehn Jahre „Mystik aktuell“

Screenshot des ersten Beitrags https://mystikaktuell.wordpress.com/2010/09/

10 Jahre „Mystik aktuell – wann, wenn nicht jetzt.“  Am 11. September 2010 ist dieser Blog online gegangen. 10 Jahre Zuspruch, Anregung, Dank, Kritik, Kommentar, Herausforderung, Dialog, Begegnung  …

Und seit dem 8. Juni 2017 hat „Mystik aktuell“ auch eine Dependance bei facebook: https://www.facebook.com/mystikaktuell

Herzlichen Dank allen Leserinnen und Lesern bei inzwischen über 555.555 Zugriffen sagt

Ihr

Werner Anahata Krebber

Wege zum Selbst

Wird der Zukunftsmensch ein Mystiker sein? Ja, oder es wird ihn nicht mehr lange geben. Schon über dem Apollotempel im griechischen Delphi stand: “Erkenne dich selbst!” -die Aufforderung an den staunenden Betrachter, der Ur-Frage menschlicher Existenz -“Wer bin ich?” – nachzuspüren, und gleichzeitig das Angebot, dem mystischen Weg zu folgen. Mystik ist kein spiritueller Sonderweg für weltfremde Eremiten, sondern ein „wegloser Weg”, der uns eintauchen lässt in das einende Sein, die letzte Wirklichkeit, die immer schon in uns ist – verlieren wir sie, sind wir verloren

 

Wer sich mit Mystik befasst, ist dazu eingeladen, sich in seinem tiefsten Inneren massiv erschüttern zu lassen, sich von gewohnten Bildern und Sichtweisen, von liebgewordenen Vorstellungen und Konzepten zu verabschieden. Er ist dazu eingeladen, jene Begrenzungen zu überschreiten, die ihm oft nicht einmal bewusst sind. Doch das, was diese Erschütterungen hervorruft, ist eigentlich unbeschreiblich. So schreibe ich nachfolgend über dieses eigentlich Unbeschreibliche, das als Mystik seit Jahrtausenden die Menschen bewegt und in allen Religionen zu finden ist. Ich bin mir dabei stets bewusst, dass die Grenzen von Sprache sehr schnell erreicht sind, wenn es um die Beschreibung jener letzten Wirklichkeit und mystischen Erfahrung geht.

Wir meinen alle dasselbe

Es verwundert nicht, dass auch die Begriffe für die Beschreibung dieser Erfahrungen in der mystischen Literatur recht verschieden sind. Manche sprechen von “der letzten Wirklichkeit”, andere vom “Absoluten”, vom “Alles ist Eins”, von “Brahman”, von “Atman”, vom “wahren Ich”, vom “Selbst”, von der “Einheit von allem” usw. All dies sind eben Beispiele, die bezeugen, wie tief die Sehnsucht verankert ist, den Weg zum eigenen Selbst zu beschreiten, ihn zu finden und zu beschreiben. In der Geschichte der Mystik gibt es eine Vielzahl von Erscheinungsformen, die sich durch die unterschiedlichen Religionen ziehen: hinduistische Mystik, die Systeme des Yoga, die Vorsokratiker und philosophischen Schulen Griechenlands seit dem 6. Jahrhundert v.u.Z., jüdische mystische Strömungen wie die Kabbala oder der Chassidismus, die islamischen Mystiker und die des Christentums. Konkret sind es vor allem Ekstase, Einigung und Nicht-Sein, die in mystischen Erfahrungen erfahren werden. Ekstase meint die Öffnung des Ich-Bewusstseins vom Personalen zum Transpersonalen. Einigung beschreibt die mystische Vereinigung mit dem Absoluten. Nicht-Sein meint, dass der Mensch erlebt oder erfährt, wie das Sein in ein reines Nichts hinübergleitet. Namen wie Platon, Plotin und Eckehart, wie Teresa von Avila, Mechthild von Magdeburg und Hildegard von Bingen sind hier nur wenige in einer langen Linie mystischer Traditionen, die uns bis in die Gegenwart führt eine Linie, die leider viel zu oft nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Was ist Mystik?

Der Begriff Mystik kommt von dem griechischen Wort “myein” und meint das schließen von Augen, Ohren und Mund, um sich für ein religiöses Grundphänomen zu öffnen. “Augen und Mund schließen – und zwar nicht aus Enttäuschung, sondern aus Verwunderung, als Ausdruck höchster Kommunikation. In der Mystik tritt uns Menschen das Geheimnis entgegen, das erfüllt und dermaßen fasziniert, dass uns nur schweigende Anbetung, Staunen und Verwundern, ganzheitliches Gegenwärtigsein bleibt,” sagt dazu der Mystik-Kenner Anton Rotzetter. Die Auseinandersetzung mit Mystik zeigt, dass immer mehr Menschen auf der Suche nach tiefster Wahrheit sich auf einen spirituellen Weg aufmachen. Einerseits, weil sie diese Wahrheiten in den institutionalisierten Formen der Großkirchen nicht mehr finden oder sie dort Antworten auf Fragen bekommen, die sie nicht gestellt haben. Andererseits, weil sie auf pseudo-esoterischen Umwegen nicht wirklich “satt” geworden sind, weil ihnen da Selbst-Darsteller den Blick auf das Eigentliche eher verstellt, als geöffnet haben. Den mystischen Weg bezeichnet Ingeborg Wolf dann auch als einen “Weg nach Hause”: “Wenn wir erfahren, wer wir sind, und wenn wir leben, was wir sind, verkörpern wir ewiges Sein, und leben in der Freiheit des Gottmenschen, des Erwachten, des Erleuchteten, des Wiedergeborenen oder des Mystikers. In diesem Zustand gibt es keine Grenzen zwischen den Menschen und den Geschöpfen, er ist Einheit allen Seins in vollkommener Harmonie.”

Herausforderungen unserer Zeit

Zu dem “Einen”, der “letzten Wahrheit” wollen die Menschen seit Jahrtausenden. Die Herausforderungen an die Menschen im dritten Jahrtausend haben sich jedoch sehr verändert. Eine zunehmende Beschleunigung der Lebensumstände ist nur eines von vielen Phänomenen. Gleichzeitig können diese Herausforderungen die Menschen auf den mystischen Weg führen und ihr Schritt-Tempo entschleunigen. Auch hat sich die Lebensqualität in den letzten Jahren weltweit enorm verschlechtert, besonders für die sogenannten Entwicklungsländer, aber mit erschreckenden Folgen auch für uns. “Armut, Korruption, schwere Fehler in der Wirtschaftspolitik, kulturelle Isolation, ethnische Konflikte und das Desinteresse der reichen Nationen sind nach Estes’ Ansicht die Hauptursachen für die negative Entwicklung in diesen Ländern, soziale Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen die wahrscheinlichen oder schon sichtbaren Folgen,” heißt es beispielsweise in einer Untersuchung, die Richard Estes von der amerikanischen University of Pennsylvania vorgestellt hat. Bei steigender Arbeitslosigkeit, wachsender Isolation, zunehmender gesellschaftlicher Entsolidarisierung und anwachsenden Scheidungsraten zeigt sich, wie der Einzelne von Bedrohungen und Ängsten herausgefordert wird, denen er oft nur allzu schwer begegnen kann.

Die Sehnsucht vieler Menschen geht daher heute noch stärker dahin, genau diese Fülle des Lebens zu erfahren, die sie so schmerzlich vermissen. Sie wollen eindringen in die tiefste Wirklichkeit, die innerste Wahrheit ihres Seins.

Spiegel und Labyrinth

Zwei Bilder sind es hier vor allem, die ich vor Augen habe, wenn es um Selbst-Erkenntnis und ihre Herausforderungen geht: der Spiegel und das Labyrinth. Im Spiegel sieht der Mensch sich nicht nur selbst, er bekommt gespiegelt, was und wie er ist. Mit dem Blick in den Spiegel hat der Mensch die Möglichkeit, in das Fenster der Seele zu sehen. Darauf einlassen kann er sich, weil der Spiegel neutral, unparteiisch und kompromisslos ist. Es braucht aber die Bereitschaft des Menschen, sich genau anzuschauen, was mit ihm ist, wie es um ihn steht. Und das ganz ehrlich und ungeschminkt, um sich der eigenen Wahrheit stellen zu können. Das Fazit des Spiegels lautet daher: “Ich bin, der ich bin”. Dann kann der Weg hinein ins Labyrinth beginnen – der innerdynamische Prozess der Selbsterkenntnis. Der Weg des Labyrinthes ist schon von seiner Anlage her seit Jahrtausenden ein Weg nach innen, ein Weg zum eigenen Selbst, zur tiefsten Wahrheit. Das Zentrum des Labyrinthes ist aber nicht das letzte Ziel. Denn der Weg des Menschen führt auch wieder zurück, nach außen, in die Welt, mit der sich der Mensch im Labyrinth untrennbar verbunden fühlt, weil er mit ihr untrennbar verbunden ist. Das verhindert beispielsweise, sich in oberflächlicher Selbst-Bespiegelungen und Egozentrik zu verstricken. Für Indianer beispielsweise erfährt der Mensch im Labyrinth die Wahrheit dessen, was geschehen ist, er wird aufgefordert, das innere Potenzial zu erkennen, bestärkt, auf das innere Wachsen zu vertrauen und angeregt, sich selbst bedingungslos zu lieben. Und dies alles mit einem – im wahrsten Sinne des Wortes – “aufrechten” Gang. Das Fazit des Labyrinthes heißt daher: Der Weg nach innen ist der Weg nach außen. Spiegel wie Labyrinth brauchen aber den immer wieder neu entschlossenen Mut zu Aufbruch und Neuanfang desjenigen, der auf der Suche nach sich selbst ist.

Mehr zum Labyrinth hier: https://mystikaktuell.wordpress.com/2011/05/21/labyrinth-das-grose-abenteuer/

Viele Wege, ein Ziel

Trotz mancher Unterschiede in den verschiedenen mystischen Traditionen wollen alle Mystiker ein einziges Ziel erreichen: die letzte, tiefe Wahrheit “schauen”. Sie fordern dazu auf, die engen Grenzen konfessioneller Bekenntnisse zu überschreiten. “Die tiefste Form des Miteinander-Teilens geschieht in und durch mystische Weisheit, durch Lehren, Einsichten, Methoden des spirituellen Lebens und deren Früchte. Ein reifes mystisches Leben ist naturgemäß, ja geradezu organischerweise interspirituell, weil die mystische Reise in der Tiefe des Menschen innere Freiheit und Befreiung entzündet”, betont der Religionswissenschaftler Wayne Teasdale. Und er zeigt die konkreten Auswirkungen auf: “ein tiefes Engagement für Gewaltlosigkeit; Einfachheit des Lebensstils; ein Gefühl von Zusammengehörigkeit mit allen Lebewesen und der Erde selbst; eine spirituelle Praxis des Gebets, der Meditation, der Kontemplation, verbunden mit liturgischen Feiern; Selbsterkenntnis, in der wir uns so sehen, wie wir sind; barmherziges Dienen sowie das Engagement für Gerechtigkeit.”

Mystik – ganz praktisch

Bei der praktischen Umsetzung, wie mystische Erfahrungen gemacht werden könnten, ist Vorsicht angesagt. Die Mystiker selbst geben fast keine praktischen Tipps auf den Weg – so individuell wie ihre eigenen Erfahrungen gewesen sind, sind es auch die jener, die sich auf den weglosen Weg machen. Es ist daher angesagt, behutsam vorzugehen: nur jenen Schritt weiter voranzugehen, der einem selbst gemäß ist.

Dabei wird deutlich: Nicht erst die mystische Erfahrung “an sich” ist es, die dazu führt, dass sich der Mensch verändert. Schon derjenige, der sich entschließt, den spirituellen Weg zu beschreiten, hat damit bereits die Möglichkeit seiner inneren Transformation in Gang gesetzt. Gehen kann er diesen Weg auf sehr unterschiedliche Weise. Ist der eine eher von einer Meditation im Zen zu erreichen, wird die andere stärker durch kontemplative Formen der Meditation angesprochen. Schweigende Anbetung, Staunen und Verwundern, ganzheitliches Gegenwärtigsein – das bleibt, wenn Menschen mystische Erfahrungen gemacht haben. Und es sind die Chancen des Menschen heute, sich mystischen Wegen und mystischen Erfahrungen zu öffnen. “Du – Ich – Hier – Jetzt”. Immer wieder ist dabei das Gewahr-Werden und Gewahr-Sein durch Selbsterkenntnis und Akzeptanz, die dem Menschen zeigen, dass es keine Trennung gibt, dass er schon längst in der Einheit mit der letzten Wirklichkeit ist.

Der Mystiker der Zukunft

In Erweiterung eines Zitates des Jesuitentheologen Karl Rahner ist meiner festen Überzeugung nach festzuhalten: “Der Mensch der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein.” Der Mensch der Zukunft wird diesen Weg allerdings nicht allein gehen müssen, weil er sich verbunden weiß mit anderen, die ebenfalls diesen Weg für sich gewählt und beschritten haben. Dabei gilt der Satz von David Steindl-Rast: “Indem wir unsere mystischen Momente mit allem, was sie bieten und verlangen, zulassen, werden wir die Mystiker, die wir sein sollen. Schließlich ist der Mystiker keine besondere Art Mensch, sondern jeder Mensch eine besondere Art Mystiker.”

Werner Anahata Krebber

 

Literatur

Bancroft, Anne: Mystiker – Wegweiser für die Zukunft, Olten/Freiburg/Br. 1992

Borchert, Bruno: Mystik. Das Phänomen – Die Geschichte – Neue Wege, Königstein im Taunus 1994

Jäger, Willigis: Mystik – Weltflucht oder Weltverantwortung? In: Concilium 30(1994), S. 332-339

Jäger, Willigis: Die Welle ist das Meer. Mystische Spiritualität. Freiburg/Br. 32000

Krebber, Werner: Nim din selbes war. Meister Eckhart und Zen-Buddhismus. In: Buddhismus als Weltreligion. Connection spezial 64, S. 56-59

Krebber, Werner: Erleuchtung im Durchbruch des Nichts. Der Mystiker Johannes Tauler und Zen. In: Buddhismus im Westen. connection special 52, S. 26-28

Mommaers, Paul: Was ist Mystik?, Frankfurt/M. 1979

Steindl-Rast, David: Fülle und Nichts. Die Wiedergeburt christlicher Mystik, München 1986

Suzuki, D.T.: Der westliche und der östliche Weg. Essays über christliche und buddhistische Mystik, Frankfurt/Berlin/Wien 1982

Teasdale, Wayne: Mystik als Überschreiten letzter Grenzen. Eine theologische Reflexion. In: Concilium 35(1999), S. 227-232

Wehr, Gerhard: Europäische Mystik zur Einführung. Hamburg 1995; Wilber, Ken: Wege zum Selbst. Östliche und westliche Ansätze zu personalem Wachstum. München 1991

Wolf, Ingeborg: Mystik. Zen, Kontemplation, Yoga, Kabbala, Sufismus, Taoismus. Praxis und Orientierung im Spiegel von Psychologie, Naturwissenschaft und Gesellschaft. Chance für die Menschheit, Frankfurt/M. 2000

Der Artikel erschien zuerst in „connection special 68: Der neue Mensch“, Oktober-November 2003, S. 26- 29

 

Herausforderung

Wir glauben zutiefst, dass alles vollkommen sein wird, wenn wir nur genug meditiert, genug gejoggt oder uns perfekt ernährt haben. Vom Standpunkt eines erwachten Menschen wäre das jedoch der Tod. Die Suche nach Sicherheit oder Perfektion, die Freude daran, sich bestätigt und heil, selbstzufrieden und bequem zu fühlen, ist eine Art Tod. Es fehlt die frische Luft. Es gibt keinen Raum mehr für Überraschungen. Wenn wir unsere Erfahrung kontrollieren, töten wir den Augenblick. Damit programmieren wir unser Versagen vor, denn früher oder später werden wir eine Erfahrung machen, die wir nicht kontrollieren können: Unser Haus brennt ab, ein geliebter Mensch stirbt, wir erfahren, dass wir Krebs haben, aus heiterem Himmel fällt uns ein Ziegelstein auf den Kopf oder jemand schüttet Tomatensaft über unseren schönen neuen, weißen Anzug.

Herausforderung ist das Wesen des Lebens. Manchmal ist es süß und manchmal bitter. Manchmal verspannt sich unser Körper, und manchmal ist er entspannt und offen. Manchmal haben wir Kopfschmerzen, ein andermal fühlen wir uns ganz und gar gesund. Alle losen Enden zu verknüpfen und schließlich alles im Griff zu haben, ist vom Blickpunkt des Erwachens tödlich, denn es erfordert das Leugnen vieler Grunderfahrungen. Eine derartige Einstellung, der Versuch, alle scharfen Kanten und Unvollkommenheiten zu glätten und das Leben zu einem netten angenehmen Ausflug zu machen, hat etwas Aggressives.

Ganz und gar lebendig zu sein, ganz und gar Mensch und wirklich wach zu sein, bedeutet, unaufhörlich aus dem Nest geworfen zu werden. Voll und ganz zu leben bedeutet, sich ständig im Niemandsland zu befinden, jeden Augenblick völlig neu und frisch zu erleben. Wahres Leben ist die Bereitschaft, immer wieder aufs neue zu sterben. Das ist Leben vom Standpunkt des Erwachens. Tod hingegen ist der Wunsch, an dem, was man hat, festzuhalten und sich von jeder Erfahrung bestätigen und auf die Schulter klopfen zu lassen, weil man alles so schön im Griff hat.

Pema Chödrön (*1936)