Wir glauben zutiefst, dass alles vollkommen sein wird, wenn wir nur genug meditiert, genug gejoggt oder uns perfekt ernährt haben. Vom Standpunkt eines erwachten Menschen wäre das jedoch der Tod. Die Suche nach Sicherheit oder Perfektion, die Freude daran, sich bestätigt und heil, selbstzufrieden und bequem zu fühlen, ist eine Art Tod. Es fehlt die frische Luft. Es gibt keinen Raum mehr für Überraschungen. Wenn wir unsere Erfahrung kontrollieren, töten wir den Augenblick. Damit programmieren wir unser Versagen vor, denn früher oder später werden wir eine Erfahrung machen, die wir nicht kontrollieren können: Unser Haus brennt ab, ein geliebter Mensch stirbt, wir erfahren, dass wir Krebs haben, aus heiterem Himmel fällt uns ein Ziegelstein auf den Kopf oder jemand schüttet Tomatensaft über unseren schönen neuen, weißen Anzug.
Herausforderung ist das Wesen des Lebens. Manchmal ist es süß und manchmal bitter. Manchmal verspannt sich unser Körper, und manchmal ist er entspannt und offen. Manchmal haben wir Kopfschmerzen, ein andermal fühlen wir uns ganz und gar gesund. Alle losen Enden zu verknüpfen und schließlich alles im Griff zu haben, ist vom Blickpunkt des Erwachens tödlich, denn es erfordert das Leugnen vieler Grunderfahrungen. Eine derartige Einstellung, der Versuch, alle scharfen Kanten und Unvollkommenheiten zu glätten und das Leben zu einem netten angenehmen Ausflug zu machen, hat etwas Aggressives.
Ganz und gar lebendig zu sein, ganz und gar Mensch und wirklich wach zu sein, bedeutet, unaufhörlich aus dem Nest geworfen zu werden. Voll und ganz zu leben bedeutet, sich ständig im Niemandsland zu befinden, jeden Augenblick völlig neu und frisch zu erleben. Wahres Leben ist die Bereitschaft, immer wieder aufs neue zu sterben. Das ist Leben vom Standpunkt des Erwachens. Tod hingegen ist der Wunsch, an dem, was man hat, festzuhalten und sich von jeder Erfahrung bestätigen und auf die Schulter klopfen zu lassen, weil man alles so schön im Griff hat.
Pema Chödrön (*1936)
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