Um den Dharma zu praktizieren, müsst ihr euren Geist zähmen: Löscht die Flammen des Hasses mit dem Wasser der liebenden Güte. Überquert den Fluss des Anhaftens auf der Brücke der wirkungsvollen Gegenmittel. Erhellt die Dunkelheit der Unwissenheit mit der Fackel der Erkenntnis. Rückt den Felsen des Stolzes mit dem Hebel des Mutes beiseite. Schützt euch vor dem Wind der Eifersucht mit dem Gewand der Geduld.
Und da man im Allgemeinen seinen Geist dadurch zerstört, dass man den fünf Giften freie Hand lässt, lasst diese Gifte nicht nach Belieben schalten und walten: Dieser Punkt ist ganz besonders wichtig!
Willst du also beten, vergiss alles, was du getan hast oder vorhast zu tun. Weise alle Gedanken ab, gleich ob gute oder böse. Gebrauche beim Beten keine Worte, es sei denn, du fühlst dich innerlich dazu gedrängt. Betest du aber doch mit Worten, so kümmere dich nicht darum, ob es viele oder wenige sind. Beachte sie nicht, denke nicht daran, was sie bedeuten. Mache dir auch keine Gedanken um die Art des Gebetes. Es ist völlig gleich, ob es offizielle liturgische Gebete sind wie Psalmen, Hymnen, Wechselgesänge oder Fürbitten, und auch, ob du nur in Gedanken betest oder vernehmlich. Nur eines habe im Sinn: in deinem Herzen eine einfache, tiefe Sehnsucht nach Gott zu hegen. Denke nicht darüber nach, wer oder was er ist oder wie er sich in seinen Werken offenbart. Ruhe in dem einfachen Bewusstsein, dass er „ist”. Ich bitte dich, laß ihn so, wie er ist. Versuche nicht, ihn genauer zu erfassen und tiefer einzudringen, sondern bleibe in schlichtem Vertrauen verwurzelt in Gottes Sein wie in festem Grund. Diese von allen Gedanken freie Aufmerksamkeit, die im Vertrauen wurzelt und gründet, wird dich von allem Denken und Wahrnehmen frei machen und dir nur das reine Bewusstsein und das dunkle Innesein deines eigenen Daseins lassen. Dein ganzes Empfinden aber ist erfüllt mit lauterer Sehnsucht nach Gott, die spricht:
„Mein Sein bringe ich dir, Herr, ohne nach einer deiner Eigenschaften zu fragen. Ich schaue nur darauf: Du bist. Nur das habe ich im Sinn, sonst nichts.„
Du sollst minnen das Nicht
Du sollst fliehen das Icht
Du sollst alleine stehn
Und sollst zu niemand gehn.
Ruhelos strebend sollst du sein
Aller Dinge dich befrein.
Du sollst die Gefangenen entbinden
Und die Freien überwinden.
Du sollst die Kranken laben
Und doch selbst nichts haben.
Du sollst das Wasser der Pein trinken
Und die Liebesglut mit dem Holze der Tugenden entzünden
Dann wohnst du in der wahren Wüste.
Mechthild von Magdeburg (* um 1207 – 1282)
In: Das fließende Licht der Gottheit. Einsiedeln, Zürich, Köln, 1955, 74