Wüste und Unwissenheit aller Dinge

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Des Menschen Bewusstsein überrascht ihn noch mit seinem Lauf. Bliebe es in seinem Vermögen wirksam und hielte es sich unverhöhnt und unzerrissen von niedern und groben Dingen, es flöge höher als der höchste Himmel und ließe nimmer ab, bis er in das Allerhöchste käme und würde da gespeist und genährt von dem allerbesten Gut, das Gott ist.

Und darum ist es nützlich, dieser Möglichkeit nachzufolgen und sich frei und losgelöst zu halten, und allein dieser Dunkelheit und diesem Unwissen nachzufolgen und nachzuhängen und nachzuspüren und nicht davon abzulassen, so ist es dir wohl möglich, den zu erreichen, der alle Dinge ist. Und je mehr in dir selbst Wüste ist und Unwissenheit aller Dinge, je näher kommst du diesem. Von dieser Wüste steht bei Jeremias geschrieben: „ich will meine Freundin in die Wüste führen und in ihrem Herzen mit ihr sprechen.“ Das wahre Wort der Ewigkeit wird allein in der Ewigkeit ausgesprochen, wo der Mensch Wüste ist und seiner selbst und aller Mannigfaltigkeit entfremdet.

Meister Eckhart (1260 – 1328) in der Predigt „Von der Dunkelheit“. In: Meister Eckharts Mystische Schriften. In unsere Sprache übertragen von Gustav Landauer. 2. Auflage 1920 (zusammen mit Martin Buber) S. 25 – 26

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Das Herz ist kein einsamer Ort

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Im Innersten unseres Herzens finden wir uns in einem Bereich, in dem wir nicht nur auf das Innigste mit uns selbst, sondern ebenso mit anderen vereint sind, mit allen anderen. Das Herz ist kein einsamer Ort. Es ist der Bereich, in dem Alleinsein und Beisammensein zusammentreffen. Ist es nicht so, dass unsere ureigenste Erfahrung uns das lehrt? Kann man jemals sagen „Jetzt bin ich wirklich bei mir, obwohl ich anderen entfremdet bin“? Oder: „Ich bin wirklich eins mit anderen, oder auch nur mit einer anderen Peson, die ich liebe, und doch bin ich mir entfremdet“? Undenkbar! Im selben Moment, da wir eins sind mit uns selbst, sind wir mit allen anderen eins. Dann haben wir die Entfremdung überwunden. Und das Herz steht für jenen Kern des Seins, wo lange vor der Entfremdung ursprüngliche Zusammengehörigkeit herrschte.

David Steindl-Rast (*1926) in: Fülle und Nichts. Die Wiedergeburt christlicher Mystik. 1968, S. 29

so muoz ich alse gar entfremdet sin von allem dem

 

 

Eine der Gefahren, die Corona mitsichbringen könnte, ist die der Entfremdung – auf vielen Ebenen. Mal kurz danach sehend, stoße ich darauf:

Eya, sol ich nu daz sprechen gotes in mir vernemen,
so muoz ich alse gar entfremdet sin von allem dem…

Das wahre Wort der Ewigkeit wird allein in der Ewigkeit ausgesprochen, wo der Mensch Wüste ist und seiner selbst und aller Mannigfaltigkeit entfremdet. Nach dieser Wüste und Fremde begehrte der Prophet, als er sprach: »Ach, wer gibt mir Flügel wie die Taube hat, auf dass ich fliegen könnte, wo ich Ruhe finde?« Wo findet man Ruhe und Rast? Wahrlich, da wo man aller kreatürlichen Dinge entworfen und entwüstet und entfremdet ist.

http://www.zeno.org/…/Predi…/Predigten/3.+Von+der+Dunkelheit

Mehr zum Begriff „Entfremdung“, den Meister Eckhart in den deutschen Sprachgebraucht eingeführt hat, findet sich hier: https://elearning.fhsg.ch/mod/wiki/view.php?pageid=227

Immer und überall zu Hause

„’Gott ist in uns daheim, wir sind in der Fremde‘ (Meister Eckhart 1260-1328). Ein Kernwort der Mystik, Gott ist im Seelengrund des Menschen anwesend, und es ist die wunderbare Berufung des Menschen, in Fühlung zu kommen mit diesem Geheimnis in ihm.“ (Johannes Bours)

In Wirklichkeit sind wir immer und überall zu Hause in dem All-präsenten Göttlichen Geheimnis, aber wir haben uns ihm entfremdet. Unser Bewusstsein ist getrübt, verschleiert, verdunkelt durch Verblendungen, durch irrige Ansichten. In weiten Phasen leben wir oberflächlich, getrieben von Begierden und Aversionen. Auch für überzeugte Christen, Muslime oder Buddhisten ist es ein langer Weg, bis ihre rationalen Glaubenssätze in dem Erfahrungswissen gegründet sind, dass wir niemals und nirgends von „Gott“, dem „Göttlichen“ oder dem „Grund“ (Meister Eckhart) getrennt sind. Dieses Ursprüngliche Wissen kann zwar getrübt oder vergessen sein, aber es meldet sich, immer mal wieder, unvermutet, in Nullpunkt-Erfahrungen und in Gipfelerlebnissen. Die Ahnung von einer ständigen Einheit unseres Selbst mit dem Absoluten, mit „Sat-Chit-Ananda“ – „Sein-Bewusstheit-Glückseligkeit“,  bewegt uns dann, so dass wir uns auf die Suche machen und den Inneren Weg gehen, zögernd zunächst, schließlich entschlossen.

http://adolf.frahling.de/Web-Site/I._Beheimatet.html