Ganz auf dem Grund der Seele

Jean Benner: Extase. 1896 / Foto: (c) wak

Allein es gibt ein Erlebnis, das aus der Seele selber in ihr wächst, ohne Berührung und ohne Hemmung, in nackter Eigenheit. Es wird und vollendet sich jenseits des Getriebes, vom Anderen frei, dem Anderen unzugänglich. Es braucht keine Nahrung, und kein Gift kann es erreichen. Die Seele, die in ihm steht, steht in sich selber, hat sich selber, erlebt sich selber – schrankenlos. Nicht mehr, weil sie sich ganz an ein Ding der Welt hingegeben, sich ganz in einem Ding der Welt gesammelt hat, erlebt sie sich als die Einheit, sondern weil sie sich ganz in sich eingesenkt hat, ganz auf ihren Grund getaucht ist, Kern und Schale, Sonne und Auge, Zecher und Trank zugleich. Dieses allerinnerlichste Erlebnis ist es, das die Griechen Ekstasis, das ist Hinaustreten, nannten.

In: Ekstatische Konfessionen. Gesammelt von Martin Buber. Veränderte Neuausgabe, Leipzig 1921, S. 12 (Einleitung: Ekstase und Bekenntnis)

Aus der Vielheit zur Einheit

Martin Buber-Skulptur in Heppenheim / Foto: (c) wak

Aber nicht bloss seiner früheren Vielheit gegenüber ist, der die Ekstase erlebt, eine Einheit geworden. Seine Einheit ist nicht relativ, nicht vom Anderen begrenzt, sie ist grenzenlos, denn sie ist die Einheit von Ich und Welt. Seine Einheit ist Einsamkeit, die absolute Einsamkeit: die Einsamkeit dessen, der ohne Grenzen ist. Er hat das Andere, die Anderen mit in sich, in seiner Einheit: als Welt; aber er hat ausser sich keine Anderen mehr, er hat keine Gemeinschaft mehr mit ihnen, keine Gemeinsamkeit. Die Sprache aber ist eine Funktion der Gemeinschaft und sie kann nichts als Gemeinsamkeit sagen. Auch das Persönlichste muss sie irgendwie in das gemeinsame Erlebnis der Menschen überführen, irgendwie aus diesem zurecht mischen, um es auszusprechen. Die Ekstase steht jenseits des gemeinsamen Erlebnisses. Sie ist die Einheit, sie ist die Einsamkeit, sie ist die Einzigkeit: die nicht überführt werden kann. Sie ist der Abgrund, den kein Senkblei misst: das Unsagbare.

Ekstatische Konfessionen. Gesammelt von Martin Buber. Jena, 1909, S. XVIII / XIX

Das Diesseits besiegen ohne ins Jenseits zu flüchten

Foto: © wak

Wenn wir aufgehört haben, unser inneres Leben auf Gott zu beziehen, dann können wir uns zu ebenso wirksamen Ekstasen erheben wie die Mystiker und wie diese das Diesseits besiegen, aber ohne in das Jenseits zu flüchten. Sollte uns dennoch die Obsession einer anderen Welt verfolgen, dann würden wir uns eine konstruieren dürfen, uns eine Gelegenheitswelt entwerfen, und sei es nur, um unser Bedürfnis nach dem Unsichtbaren zu befriedigen. Was zählt, sind einzig unsere Erlebnisse, ihre Intensität und ihre Kräfte, die uns zum Beispiel instandsetzen, uns in eine nichtsakrale Tollheit zu stürzen.

Emil M. Cioran (1911 – 1995) in: Dasein als Versuchung. Stuttgart 1983, S. 181

Raum für die ewigen Dinge entstehen lassen

Foto: © wak

Es ist bezeichnend, dass die Heiligen ihre ekstatischen Visionen durch katholische Geistliche, die selbst nicht visionär veranlagt waren, überprüfen ließen, um ein autorisiertes Urteil zu bekommen, ob ihre Visionen echt seien oder nicht und ob sie von Gott oder vom Teufel stammten. Als ob ein Mensch, der wirklich von Gott erhört und von ihm erleuchtet ist, ein Bedürfnis fühlen würde, seine Offenbarung durch einen Geistlichen oder einen Wissenschaftler „untersuchen“ zu lassen!

Aber die katholische Kirche hatte Recht, wenn sie für sich beanspruchte, die Visionen der Heiligen zu prüfen, bevor sie sich dafür verbürgte und sie für heilig erklärte. Sie wusste um die gefährliche Nähe von spontanem Glauben und künstlich zustande gebrachter Ekstase. Denn die Geschichte der Mystik offenbart immer wieder Fälle, in denen die gefährliche Nähe sich zu einer bedenklichen Mischung entwickelte, zu einer Wildnis, wo gesunde, Frucht tragende Bäume zusammen mit giftigen Pflanzen aufwachsen. Die Ursache davon ist einerseits, was wir bereits nannten, dass der Intellekt häufig die Erfahrung vorwegzunehmen sucht, andererseits, dass vom ersten Augenblick an ein Gegensatz zu bestehen scheint zwischen der geschlossenen und der offenen Welt, den zeitlichen und den ewigen Dingen. Wir sehen nicht, dass dieser Unterschied derselbe ist wie der zwischen einer geschlossenen und einer offenen Dose. Wir entdecken, dass ein gewisses Maß an Verzicht notwendig ist, wenn Raum für die ewigen Dinge entstehen soll. Wenn wir ein Glas zur Hälfte mit Wasser gefüllt haben wollen und zur anderen Hälfte mit Wein, können wir das Glas nicht bis zum Rand mit einer dieser beiden Flüssigkeiten füllen. Wenn es schon voll von einer Flüssigkeit ist, werden wir etwas ausgießen müssen, damit Platz für die andere entsteht.

Johannes Anker Larsen (1874 – 1957) In: Vom wirklichen Leben. Drei Vorträge gehalten in Amersfoort, Berlin und Zürich erschienen im mym- Verlag, Berlin, 2004

Der vollständige Text ist hier nachzulesen:

MAGISCHE BLÄTTER
CI. JAHRGANG HERBST 2020
3. Quartalsausgabe August, September, Oktober, gebunden
ISBN.Nr. 978 -3-948594-03-9

HEFT 9 |  Oktober 2020

https://verlagmagischeblaetter.eu/monatsschrift/magische-blaetter

Bestellt werden können die Magischen Blätter hier: kontakt@verlagmagischeblaetter.eu

 

 

Der Asket

Foto: © wak

Im Hochgebirg vor seiner Höhle
Saß der Asket;
Nur noch ein Rest von Leib und Seele
Infolge äußerster Diät.

Demütig ihm zu Füßen kniet
Ein Jüngling, der sich längst bemüht,
Des strengen Büßers strenge Lehren
Nachdenklich prüfend anzuhören.

Grad schließt der Klausner den Sermon
Und spricht: Bekehre dich, mein Sohn.
Verlaß das böse Weltgetriebe.
Vor allem unterlaß die Liebe,
Denn grade sie erweckt aufs neue
Das Leben und mit ihm die Reue.
Da schau mich an. Ich bin so leicht,
Fast hab ich schon das Nichts erreicht,
Und bald verschwind ich in das reine
Zeit-, raum- und traumlos Allundeine.

Als so der Meister in Ekstase,
Sticht ihn ein Bienchen in die Nase.

Oh, welch ein Schrei!
Und dann das Mienenspiel dabei.

Der Jüngling stutzt und ruft: Was seh ich?
Wer solchermaßen leidensfähig,
Wer so gefühlvoll und empfindlich,
Der, fürcht ich, lebt noch viel zu gründlich
Und stirbt noch nicht zum letzten Mal.

Mit diesem kühlen Wort empfahl
Der Jüngling sich und stieg hernieder
Ins tiefe Tal und kam nicht wieder.

Wilhelm Busch (1832–1908)
in: Sämtliche Werke, Herausgegeben v. Otto Nöldeke, Band 6, München 1943, S. 321-322

Transformieren aller Unterschiede

Wir erhalten Erfahrungen von der Wissenschaft, von naturwissenschaftlichen Entdeckungen, von der Geschichte, von historischen Offenbarungen, von der Philosophie, von philosophischen Daten, von Religion und von philosophischen Lehren. In diesen Erfahrungen sehen wir die Gegenwart, die Anwesenheit von Subjekt und Objekt, von Essenz und Existenz, von Vision und Wirklichkeit. Aber eine mystische Erfahrung, welche sofortiges Einssein ist, übersteigt, transformiert alle solche Unterschiede. Diese Erfahrung ist das konstante Einsein mit dem Jenseits, das sich immer transcendierende Jenseits das immer unaussprechlich bleibt. Mystik, arme Mystik! Wenn sie zu vereinfacht und unterschätzt wird, kommt sie von ihrer ursprünglichen Sphäre herunter und steht neben der Religion. Aber sogar hier, wenn eine Person aufrichtig ist, wird sie realisieren, dass ihre höchsten religiösen Erfahrungen, nicht mehr als eine unsichere, unklare, schwache Wahrnehmung der Wahrheit ist. Wogegen es keine Rolle spielt was sie für eine mystische Erfahrung hat, sie wird Intensität, Unermesslichkeit und Sicherheit der Wahrheit fühlen. Wir müssen auch wissen, dass religiöse Ekstase und mystische Ekstase nicht die gleiche Rolle in unserem innern Leben spielen. Die religiöse Ekstase bezieht sich meistens auf das Menschliche in uns. Diese Ekstase ist im eingeschränkten Körperbewusstsein, im disziplinierten oder undisziplinierten Vitalen, im erleuchteten oder unerleuchteten Verstand, und im reinen oder unreinen Herz. Aber die mystische Ekstase bringt uns sofort ins Jenseits, wo wir vom ewigen Leben umarmt werden, genährt werden vom alles ernährenden Licht und von der transzendalen Wahrheit gesegnet werden. Primitive Religionen offerierten Ekstase im Vitalen im körperlichen Verstand und im wünschenden Herz. Sehr fortgeschrittene Mystik offeriert nun ihre Ekstase in unendlichem Masse um die Seelen zu befreien und in unendlichem Masse den Seelen die nahe vor der Befreiung stehen.

Chinmoy Kumar Ghose (1931 – 2007) in einem Vortrag über Mystik

Wilhelm Busch: Der Asket

Im Hochgebirg vor seiner Höhle
Saß der Asket;
Nur noch ein Rest von Leib und Seele
Infolge äußerster Diät.

Demütig ihm zu Füßen kniet
Ein Jüngling, der sich längst bemüht,
Des strengen Büßers strenge Lehren
Nachdenklich prüfend anzuhören.

Grad schließt der Klausner den Sermon
Und spricht: Bekehre dich, mein Sohn.
Verlaß das böse Weltgetriebe.
Vor allem unterlaß die Liebe,
Denn grade sie erweckt aufs neue
Das Leben und mit ihm die Reue.
Da schau mich an. Ich bin so leicht,
Fast hab ich schon das Nichts erreicht,
Und bald verschwind ich in das reine
Zeit-, raum- und traumlos Allundeine.

Als so der Meister in Ekstase,
Sticht ihn ein Bienchen in die Nase.

Oh, welch ein Schrei!
Und dann das Mienenspiel dabei.

Der Jüngling stutzt und ruft: Was seh ich?
Wer solchermaßen leidensfähig,
Wer so gefühlvoll und empfindlich,
Der, fürcht ich, lebt noch viel zu gründlich
Und stirbt noch nicht zum letzten Mal.

Mit diesem kühlen Wort empfahl
Der Jüngling sich und stieg hernieder
Ins tiefe Tal und kam nicht wieder.

http://de.wikisource.org/wiki/Der_Asket | Nach der Erstausgabe von 1904

Hier kann „Der Asket“ gehört werden; gesprochen von Peter Kempkes: http://sprechbude.podspot.de/files/wilhelmbusch_derasket.mp3