Verkündiger der Morgenröte

An Tieck

Die Zeit ist da, und nicht verborgen
Soll das Mysterium mehr sein.
In diesem Buche bricht der Morgen
Gewaltig in die Zeit hinein.

Verkündiger der Morgenröte,
Des Friedens Bote sollst du sein.
Sanft wie die Luft in Harf und Flöte
Hauch ich dir meinen Atem ein.

Gott sei mit dir, geh hin und wasche
Die Augen dir mit Morgentau.
Sei treu dem Buch und meiner Asche,
Und bade dich im ewigen Blau.

Du wirst das letzte Reich verkünden,
Was tausend Jahre soll bestehn;
Wirst überschwenglich Wesen finden,
Und Jakob Böhmen wiedersehn.

Friedrich von Hardenberg / Novalis (1772 – 1801)

In seinem „An Tieck“ gerichteten Gedicht aus dem Jahre 1800 zeigt Novalis, welche Bedeutung die Begegnung mit dem Werk Jacob Böhmes (1575 – 1624) für ihn hatte. Die letzten Verse verherrlichen gleichsam Böhmes „Morgenröte im Aufgang“.

Unter anderem dieser Text wurde in einem Hörstück Die Sprache ist Delphi / Novalis träumt von Ronald Steckel eingearbeitet:
https://mystikaktuell.wordpress.com/2022/03/24/17596/

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Martin Buber zum Weltkulturerbe „Heiliger Sand“

Jüdischer Friedhof in Worms Foto (c) wak

„Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofgewirr zu der herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. .. Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels. Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden.“

Martin Buber (1878 – 1965) in: Theologische Blätter 12(1933) 272f.

Gedenktafel am Wormser Judenfriedhof „Heiliger Sand“ Foto (c) wak

Mehr zur Geschichte des Friedhofes „Heiliger Sand“ – ältester erhaltener jüdischer Friedhof in Europa – hier:

http://www.alemannia-judaica.de/worms_friedhof.htm#Zur%20Geschichte%20des%20Friedhofes%20%22Heiliger%20Sand%22

Siehe auch: https://schumstaedte.de/

Erinnerung an das Geschehen mit Gott

 

Jüdischer Friedhof in Worms – Fotos: © wak

Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofgewirr zu der herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. .. Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels. Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden.

Martin Buber (1878 – 1965) in: Theologische Blätter 12(1933) 272f.

 

 

 

Wie ein dem Käfig entkommener Vogel

Laß ab von all deinen früheren Einbildungen, Meinungen, Deutungen und weltlichen Erkenntnissen, von Verstandesdünkel, Selbstsucht und Überlegenheitsstreben. Werde wie ein abgestorbener Baum, wie kalte Asche. Wenn du den Punkt erreichst, wo Gefühle aufgehört haben, Anschauungen sich verflüchtigt haben und dein Geist rein und bloß ist, öffnest du dich der Zen-Verwirklichung.

Danach kommt es darauf an, Beständigkeit zu entwickeln, den Geist stets von allen Verfälschungen freizuhalten. Ist da auch nur das geringste Schwanken, so besteht keine Hoffnung, die Welt zu überwinden.

Bleib in jeder Lage entschlossen und fest, dann wirst du Frieden haben. Wenn man dich keiner Stufe zuordnen kann, weder der des Weisen noch der der gewöhnlichen Menschen, dann bist du wie ein dem Käfig entkommener Vogel.

Yuan-wu K`o-ch`in (1063 – 1135)

Martin Buber: Alles erfahren

juedischerfriedhofinwormsJüdischer Friedhof in Worms                                                            Foto (c) wak

„Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofgewirr zu der herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. .. Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraums nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels. Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden.“

Martin Buber (1878 – 1965) in: Theologische Blätter 12(1933) 272f.

 heiligersandGedenktafel am Wormser Judenfriedhof „Heiliger Sand“        Foto (c) wak

Mehr zur Geschichte des Friedhofes „Heiliger Sand“ – ältester erhaltener jüdischer Friedhof in Europa – hier:

http://www.alemannia-judaica.de/worms_friedhof.htm#Zur%20Geschichte%20des%20Friedhofes%20%22Heiliger%20Sand%22

Bleib entschlossen und fest

Laß ab von all deinen früheren Einbildungen, Meinungen, Deutungen und weltlichen Erkenntnissen, von Verstandesdünkel, Selbstsucht und Überlegenheitsstreben. Werde wie ein abgestorbener Baum, wie kalte Asche. Wenn du den Punkt erreichst, wo Gefühle aufgehört haben, Anschauungen sich verflüchtigt haben und dein Geist rein und bloß ist, öffnest du dich der Zen-Verwirklichung.

Danach kommt es darauf an, Beständigkeit zu entwickeln, den Geist stets von allen Verfälschungen freizuhalten. Ist da auch nur das geringste Schwanken, so besteht keine Hoffnung, die Welt zu überwinden.

Bleib in jeder Lage entschlossen und fest, dann wirst du Frieden haben. Wenn man dich keiner Stufe zuordnen kann, weder der des Weisen noch der der gewöhnlichen Menschen, dann bist du wie ein dem Käfig entkommener Vogel.

Yuan-wu K`o-ch`in (1063 – 1135)