Geheimnisvolle Tiefe empfinden

Für abendländische Gelehrte scheinen die großen religiösen Schriften Indiens nur historisches und archäologisches Interesse zu haben. Aber für uns haben sie lebendige Bedeutung, und wir können nicht umhin zu glauben, daß sie diese Bedeutung verlieren, wenn man sie in etikettierten Glaskästen ausstellt, als einbalsamierte Musterexemplare menschlichen Denkens und Trachtens, die man für alle Zeiten sorgfältig in den Mumienbinden der Gelehrsamkeit aufbewahrt.

Der tiefe Sinn der lebendigen Worte, die der Ausdruck der Erfahrungen großer Herzen sind, kann nie durch irgendeine noch so scharf- oder feinsinnige logische Erklärung erschöpft werden. Solche Worte erhalten erst ihre Deutung durch eine endlose Reihe von Einzelleben, und je mehr sich ihr Sinn uns enthüllt, je mehr empfinden wir ihre geheimnisvolle Tiefe.

Rabindranath Tagore (1861-1941) in seinem Vorwort zu Sadhana. Der Weg der Vollendung. München 1921

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